JIM LAUDERDALE

23. August 2024 Interview

Wenn man so umtriebig ist wie Jim Lauderdale, kann man schon mal den Überblick über das eigene Schaffen verlieren: Über dreißig Alben in knapp über dreißig Jahren sprechen wohl für sich. Auf die Frage, ob er denn überhaupt noch wisse, wie viele Songs er geschrieben habe, antwortet der Mann aus North Carolina mit Wohnsitz in Nashville: „Ich weiß es nicht, ich bin nicht sicher. Vielleicht tausend. Manche davon sind unveröffentlicht, andere wurden nur als Demo mit Akustikgitarre und Gesang aufgenommen. Bei manchen denke ich mir: Das sollte ich eines Tages rausbringen! Und bei anderen denke ich mir: Das sollte ich besser nicht veröffentlichen.“

Als ob das nicht schon erstaunlich genug wäre, arbeitet der zweifache Grammy-Preisträger auch mit 67 Jahren immer noch daran, sein immens umfangreiches Werk zu vergrößern. Wenn der sanftmütige und unfassbar freundliche Lauderdale über aktuell anstehende Projekte spricht, klingt das so: „Ich habe letzten September eine Bluegrass-Platte mit einer Band namens Po' Ramblin' Boys gemacht. Demnächst werde ich wieder ein Bluegrass-Album aufnehmen und eine Art Country-Platte machen. Es gibt da mehrere Alben, die ich noch nicht fertiggestellt habe. Zum Beispiel ein Album, das ich in den Royal Studios in Memphis aufgenommen habe, so eine Art Soul-Album mit Bläsern. Dann habe ich noch, ich glaube es war 2009, eine Platte gemacht mit Musikern, die mit Gram Parsons aufgenommen haben: James Burton, Al Perkins und Ronnie Tutt. Glen D. Hardin hat bei ein paar Liedern Klavier gespielt. Das Studio, in dem wir damals aufgenommen haben, gehört dem Bassisten der E-Street Band, Garry Tallent. Dreizehn Lieder habe ich jetzt noch aus diesen Sessions, für die ich noch keine Texte habe, weil wir immer weiter Songs aufgenommen haben, für die ich die Arrangements hatte. Solos haben wir auch aufgenommen. Aber ich hatte keine Ideen für Texte und keine Konzepte für diese Songs während des Aufnehmens. Ein Album, das aus diesen Sessions entstanden ist, haben wir bereits veröffentlicht, Honey Songs. Jetzt muss ich noch das andere fertig machen.“

Woher kommt dieser unstillbare Schaffensdrang, der zusätzlich mit einem straffen Tour-Plan einhergeht? Und das in einem Alter, in dem viele andere Künstler*innen schon längst ein paar Gänge runtergeschaltet haben. „Ich bin wie Willie Nelson, aber er scheint jünger als ich zu sein (lacht). Im Ernst: Als ich ein Teenager war, wollte ich unbedingt Platten machen. Aber dort hinzukommen hat sehr lange gedauert: Als ich erst in meinen Dreißigern angefangen habe, aufzunehmen, dachte ich eigentlich, dass mein Zug schon abgefahren sei. Natürlich will ich auch aufnehmen und schreiben, ich mag diesen Prozess. Aber aus psychologischer Sicht würde ich sagen, dass ein Teil von mir meint, noch immer etwas aufholen zu müssen. Deswegen bringe ich pro Jahr ein oder zwei Alben raus. Es gibt immer noch vieles, was ich machen will.“

Da kommt ihm natürlich zugute, dass ihm das Songwriting noch immer leicht von der Hand geht: „Es ist immer noch ziemlich dasselbe. Melodien fallen mir am schnellsten ein. Manchmal wache ich morgens auf und fange einfach an etwas zu singen. Manchmal setze ich mich zu einer vorher festgelegten Zeit zum Schreiben hin. Und manchmal arbeite ich auch mit anderen Songschreibern zusammen. Für die Texte brauche ich mehr Zeit. Das ist der schwere Teil und er war es schon immer.“

Ein bevorzugtes Thema, über das Lauderdale schreibt, ist das menschliche Miteinander: „Ja, darüber schreibe ich gerne. Viele Songwriter fangen an, indem sie Liebeslieder schreiben, was ich auch noch tue. Aber ich muss mich dabei selbst etwas herausfordern, weil du eine neue Art finden musst, Dinge auszudrücken. Du kannst einfach nicht immer wieder dasselbe schreiben. Und mir gefällt es, über Dinge zu schreiben, die nicht so typisch sind, um etwas Abwechslung zu haben.“

Einen besonderen Stellenwert für Lauderdales gegenwärtiges Schaffen nimmt seine Begleitband ein, The Game Changers, die Lauderdale aus deutlich jüngeren Musiker*innen zusammengestellt hat. Dazu gehört zum Beispiel auch Lillie Mae, deren drittes Album Other Girls 2019 bei Jack Whites Label Third Man Records erschien und das von Dave Cobb produziert wurde. „Jay (Weaver), der Bassist, ist jetzt seit fast 20 Jahren mit mir unterwegs. Damals habe ich viel Bluegrass gemacht, bevor wir mehr Country-Gigs gespielt haben. Jay ist irgendwie dabeigeblieben und hat irgendwann Dave (Racine, Schlagzeuger) dazu gebracht, vor etwa acht Jahren. Lillie Mae und Frank habe ich getroffen, als sie noch Kinder waren. Sie sind in einer herumreisenden Family Band aufgewachsen und haben Bluegrass gespielt. Und irgendwie wollte Frank immer mit mir zusammenarbeiten. Lillie Mae macht großartige Platten. Ich liebe diese Menschen!“

Die Zuneigung zur Band äußert sich auch in einem weiteren Projekt, mit dem Lauderdale gerade beschäftigt ist: „Momentan arbeite ich an einem Album mit Lillie Mae und den Game Changers, als richtiger Band, für das ich die Songs mitschreibe und auch mal Harmony oder Lead Vocals übernehme. Aber eigentlich geht es darum, den Game Changers mehr Raum zu geben.“

Anderen mehr Raum zu geben und selbst dafür einen Schritt nach hinten zu gehen, scheint für den bescheidenen Lauderdale kein Problem zu sein. Vielleicht erklärt das auch seine zahlreichen Kollaborationen, die von Buddy Miller, mit dem er auch eine gemeinsame Radiosendung hat, über den Grateful Dead-Texter Robert Hunter bis zur Bluegrass-Legende Ralph Stanley reichen. Über letzteren sagt Lauderdale: „Wir haben zwei Alben und ein Lied auf einer seiner Platten gemacht, Clinch Mountain Country, auf der sogar Bob Dylan zu Gast ist. Ich habe ihn geliebt, seit ich ein Kind war. Seine Stimme! So gut! Und er war ein wirklich toller Typ, sehr lustig und machte gerne Witze.“

Doch seien alle derartigen Begegnungen und Kooperationen im Lauf seiner Karriere für ihn von Bedeutung gewesen: „Alle waren auf ihre Art und Weise wichtig. Ich habe angefangen, mit Robert Hunter zu schreiben, als ich auch angefangen habe, mit Ralph Stanley zusammenzuarbeiten. Zuerst haben wir zwei Songs für das Album mit Ralph geschrieben, dann kam er für ein paar Monate nach Nashville und wir haben 33 Songs geschrieben. So ging das weiter, dass ich sechs Alben mit unseren gemeinsamen Songs veröffentlichen konnte. Wir haben rund einhundert Songs zusammengeschrieben. Ich liebe es einfach, zu schreiben! Mit Elvis Costello konnte ich ein paar Songs schreiben und habe auf ein paar seiner Alben Harmoniegesang beigesteuert. Ich bin mit ihm und einer Akustikband, den Sugarcanes, auch ein paar Jahre getourt. Das dazugehörige Album war Secret, Profane & Sugarcane. Für sein nächstes Album, National Ransom, hat dieselbe Band ein paar Sachen eingespielt. Dann ist er mit Jerry Douglas, Stuart Duncan und anderen damit auf eine intensive Tour gegangen. Ich konnte auch ein paar Songs mit John Oates von Hall & Oates schreiben. Sein Hintergrund ist eigentlich Roots- und Folkmusik, was man natürlich nicht erwarten würde. Er wurde wirklich ein guter Freund für mich. Ich schätze mich sehr glücklich, mit diesen großartigen Menschen zusammenzuarbeiten.“

Als mit der Moderne hadernder Traditionalist nutzt Lauderdale kein Spotify – und zeigt sich auch sonst wenig an technischen Innovationen interessiert: „Ich bin wohl die Definition eines Luddites, wie man in den Staaten sagen würde: jemand, der gerade noch so sein Smartphone bedienen kann. In ein paar Wochen werde ich einen Song auf Youtube veröffentlichen, Artificial Intelligence, einen richtigen Country-Song. Ich habe ein wenig Angst vor diesem Thema. Und ich weiß nicht, ob das alles nötig ist. Ich verstehe es nicht wirklich. Und mir gefällt die Art nicht, wie damit Propaganda gemacht werden kann, wie Videos und Fotos anderer Menschen verändert werden und sie in Verlegenheit gebracht werden können.“

Doch Lauderdale blickt nicht nur skeptisch auf Gegenwart und Zukunft: Mindestens in musikalischer Hinsicht hat er noch Hoffnung, dank junger Künstler wie Colter Wall: „Er ist toll! Es gibt da einige Künstler, nicht viele, aber ein paar, wie Sturgill Simpson vor ein paar Jahren, Tyler Childers, Margo Price und jetzt Sierra Ferrell. Jede und jeder von ihnen ist unterschiedlich und keiner von ihnen ist Mainstream-Country, wie ihn die großen Radiosender spielen. Und diese Künstler kommen trotzdem groß raus! Billy Strings, wow! Er spielt Akustikgitarre und Bluegrass, es ist der Wahnsinn! Molly Tuttle sollte man natürlich auch nicht vergessen. Ich bin sehr glücklich, dass es diese Generation von Musiker*innen gibt, die wirklich spannende Musik machen und damit ein Publikum aus jüngeren Menschen ansprechen. Vielleicht vergesse ich etwas, aber so etwas ist schon länger nicht mehr vorgekommen. Als ich ein Kind war, gab es die Beatles und die Rolling Stones, Jimi Hendrix und Janis Joplin, in der Country-Welt George Jones und Johnny Cash, Tammy Wynette und Dolly Parton. Dolly ist zwar noch hier, aber viele der anderen sind von uns gegangen. Und die Künstler der heutigen Generation, die so anders ist, haben ihre ganz eigenen Stimmen und machen wirklich gute Musik. Und wenn es solche Musik gibt, bringt sie Menschen zusammen.“

Besteht denn die Hoffnung, dass Lauderdales Musik auch in Deutschland ein paar Menschen zusammenbringen kann? Sein letzter Tourstopp hierzulande liegt ja schon einige Zeit zurück: „Ich würde gerne wiederkommen! Ich war zuletzt um 1995 rum in Deutschland, im Vorprogramm von Nick Lowe. Ich war solo unterwegs, Nick hatte seine Band The Impossible Birds dabei. Und dann kam ich nochmal mit einer Band namens Rolling Creekdippers, die aus Buddy und Julie Miller, Victoria Williams und Mark Olsen bestand. Es war zwar nur eine kleine Tour, aber ich bin damals davon ausgegangen, dass wir als Band zusammenbleiben würden und als Nebenprojekt weiter zusammenarbeiten würden. Aber das war dann doch alles, was wir je gemacht haben, mit Ausnahme eines Songs für das Gram Parsons Tribute Album Return of the Grievous Angel.“

Hoffen wir also auf eine baldige Return of the great Jim Lauderdale auf deutschen Bühnen. Es wird Zeit!

Words: Andreas Paßmann
Photo: Volker Ebert (Tønder, 23.08.2024)