TONDER FESTIVAL 2022

25.08.2022 - 28.08.2022 Tønder

Wenn jemand wie Christopher Paul Stelling das Tønder Festival zu seinen drei Festival-Favoriten zählt, hat das schon etwas zu bedeuten. Der US-amerikanische Gitarrist und Songschreiber hat in den letzten 15 Jahren rund 2000 Shows gespielt und weiß also, wovon er spricht. Mithalten können nur die beiden Folkfestivals in Newport und Winnipeg, ohne dass Stelling sich hier auf eine Reihenfolge festlegen will. Dem Autor fehlen die Vergleichswerte jenseits des Atlantiks, weswegen er Tønder mit großem Abstand vor der ihm bekannten Konkurrenz auf Platz Nummer eins setzt.

Den Ruf als Lieblingsfestival hat Tønder auch dieses Jahr wieder mit Leichtigkeit verteidigt: Das seit 1975 jährlich stattfindende Festival im Süden Dänemarks präsentiert jedes Jahr an vier Augusttagen ein überragendes Line Up, das Fans von Folk, Country und Americana das Wasser im Mund zusammen laufen lässt, und das gerne auch mal großzügig über Genregrenzen hinwegsieht. So ist am Donnerstag beispielsweise Madrugada Headliner auf der großen Open Air Bühne. Die norwegische Rockband um Sivert Høyem beweist mit einer mitreißenden und druckvollen Show, dass sie seit ihrer Reunion 2019 wieder in voller Blüte ist – live ebenso wie im Studio mit dem 2022er Album Chimes at Midnight .

Zuvor haben im Spiegelzelt Anna Tivel, Amythyst Kiah und Sean Rowe in ihren jeweiligen Solo-Sets gezeigt, wie viel eine Stimme und eine Gitarre bewirken können: die barfuß agierende Anna Tivel mit introspektivem Folk und einem Cover von The Boxer, das das Publikum unaufgefordert mitsingt, Amythyst Kiah mit zwischen Folk, Blues und Country changierenden Songs. Besondere Anerkennung finden ihre Interpretation von Heart of Gold und die Eigenkomposition Black Myself, die als perfekter Soundtrack zur Black Lives Matter-Bewegung verstanden werden kann. Ebenso wenig entziehen kann man sich dem tiefen, markanten Bariton Sean Rowes, der selbstverfasstes Material (To Leave Something Behind, The Very First Snow) ebenso präsentiert wie ein paar Songs für die Ewigkeit: Girl from the North Country, Into my Arms, Hurt, Everybody knows und Jolene im Zugabenteil.

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Den musikalischen Höhenflug ihres pausierenden Projekts Birds of Chicago setzt Allison Russell unterdessen mit ihrem Soloalbum Outside Child fort, mit dem sie den Missbrauch durch ihren Adoptivvater verarbeitet. Was beim Lesen vielleicht als schwere Kost erscheinen mag, erweist sich live mit ihrer dreiköpfigen Frauen-Band und deren Instrumentalfähigkeit an Gitarre, Keys und Geige als ein unfassbar kraftvoller Auftritt – und als einer der Höhepunkte des Festivals.

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Mit einer „Breakfast Show“ um 11.00 Uhr eröffnet Margo Cilker dann den Freitag in einem der beiden größeren Konzert-Zelte und beweist, dass sie bei den ganz Großen des Genres gelernt hat: Die Americana einer Lucinda Williams klingt ebenso an wie Gillian Welch, dazu ein Cover von Ian Tysons Navajo Rug, das ihre dreiköpfige Band gekonnt zum Swingen bringt. Schwermütige und sehnsuchtsvolle Nummern wie Wine in the World von Cilkers überragendem Debütalbum Pohorylle werden hier eher ausgeklammert, weshalb die Leichtigkeit des Auftritts nicht ansatzweise auf die Intensität vorbereitet, die William Crighton kurz darauf an gleicher Stelle beschwört: Der Australier – nur begleitet von seiner Frau Julieanne – übertrifft sein 2018er Tønder Konzert – damals mit Band – bei weitem. Hart bis zart geht es in seinem Set zu, von röhrendem Blues (Jesus Blues) bis zu erschreckend aktuellen Folkballaden und Antikriegsliedern wie The Band Played Waltzing Matilda von Eric Bogle ist alles im Programm. Erstaunlich, wie dabei mit fast minimalen Mitteln maximale Effekte erzielt werden: Mehr als eine Ukulele, Akkustik-, oder E-Gitarre und Julieanne als zweite Stimme braucht Crighton nicht, um das Publikum komplett in seinen Bann zu ziehen.

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Eine ähnliche Wirkung erzielt auch besagter Christopher Paul Stelling mit seinem Solo-Auftritt im Pumpenhaus: Der 40-Jährige präsentiert sich als waschechte One-Man-Band und wechselt vom sensiblen Folkie mit virtuosem Finger-Picking zum räudigen Blues-Rock mit E-Gitarre, zu der er je nach Song Base-Drum oder Hi-Hat mit dem Fuß bedient. Zwischendurch lässt Stelling auch mal den Poser raushängen und spielt die Gitarre quasi rückwärts über der Schulter.

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Als zuverlässige Partykapelle erweisen sich im Anschluss die Mavericks auf der Open Air-Hauptbühne mit ihrem patentierten Mix aus Latin, Tejano, Americana und Pop. Die achtköpfige Formation um Sänger Raul Malo und Lead-Gitarrist Eddie Perez, der aussieht, als wäre er einem Tarantino-Western entsprungen, konzentriert sich auf die Hits aus über drei Jahrzehnten Bandgeschichte (Unterbrechungen nicht mitgerechnet) wie All You Ever Do Is Bring Me Down und Back in your Arms again und sorgt damit für Tanzstimmung im Publikum.

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Äußerst unterhaltsam gerät der Auftritt Dylan LeBlancs am Samstagvormittag im Spiegelzelt, was vor allem an den Anekdoten liegt, die der 32-Jährige neben seinen Songs mit halbakkustischer Gitarre zum Besten gibt. Zum Beispiel, wenn er über seine Heimatstadt Shreveport redet, die er als „Shithole“ bezeichnet, in der man entweder Gangster, Redneck oder Songwriter wird. Oder wie es dazu kam, dass Emmylou Harris auf seinem Debütalbum bei If the Creek Don't Rise mitsang, indem er Weed für Neil Young organisierte.

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Viel schwieriger fällt Mick Flannery die Kommunikation mit dem Publikum auf der gleichen Bühne im Anschluss. Man hat das Gefühl, dass der introvertierte Ire, der in seiner Heimat überaus erfolgreich ist, sehr ungern im Rampenlicht steht – und lieber seine Songs für sich sprechen lässt. Und was für Songs Flannery im Gepäck hat! Mit der großartigen Susan O'Neill und einer dreiköpfigen Band präsentiert er Lieder aus dem gemeinsamen Duett-Album In the Game, das von der Presse mit Lobeshymnen als Meisterwerk gefeiert wurde. Phoebe Bridgers, ohnehin Flannery-Fan, drückt es weniger wortreich, aber dafür umso direkter aus: „I love this fucking record“. Das sollte jeder Mensch mit Ohren zum Hören auch so sehen. Zweifellos stellt der Auftritt einen weiteren Höhepunkt des an Höhepunkten nicht armen Festivals dar, zumal die Eigenkompositionen mit Coverversionen von John Prine (Angel from Montgomery) und Bob Dylans Oh, Sister ergänzt werden.

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Musikalisch kann Katie Pruitt das Niveau danach nicht halten, obwohl ihr angenehmer Folk-Pop überzeugt – auch was die Inhalte angeht. Die aus einem streng katholischen Haushalt in Georgia stammende 28-Jährige musste aufgrund ihrer Homosexualität schon den einen oder anderen Kampf in ihrem Leben austragen, auch mit ihren eigenen Eltern, wie sie auf der Bühne erzählt. Was die Songwriterin in Songs und Lyrics deutlich einfließen lässt: „The world taught us to fit, but we did the opposite”, heißt es an einer Stelle. Kein Wunder, dass auch Donald Trump sein Fett wegkriegt, über den sie singt: „The devil wears a suit and tie“.

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Mit ihren Auftritten am Samstagabend und am Sonntagvormittag erweist sich Eilen Jewell ein weiteres Mal als Königin der Moll-Tonarten, wie es ihr 2011er Studioalbum Queen of the Minor Key suggeriert. Ihr Hoheitsgebiet erstreckt sich aber weit über das Moll-Terrain hinaus, wie Rich Man’s Word, Rain Roll In und zahlreiche andere Songs deutlich machen – auch vom noch unbetitelten, neuen Studioalbum, das im Frühjahr 2023 veröffentlicht werden soll. Loyalste Unterstützung in ihrer Regentschaft erweist dabei ihre dreiköpfige Begleitband, die mit sichtlichem Vergnügen ihrer Königin dient. Allen voran ist es der silberhaarige Veteran und Gitarrenmagier Jerry Miller, der mit seinen Licks eine wesentliche Säule des königlichen Palasts bildet, um mal im Bild zu bleiben.

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Nachdem man von Mick Flannery und Susan O'Neill einfach nicht genug bekommen kann, sieht man sich das Duo einfach nochmal an, heute in einem der größeren Zelte, wo sie erneut ihre große Klasse demonstrieren, bevor Keb’ Mo’ und Band auf der Hauptbühne ein groovendes Best Of seiner Karriere mit Liedern wie Life is beautiful spielen.

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Unerwähnt bleiben an dieser Stelle die zahlreichen Auftritte, die aufgrund von Überschneidungen etc. nicht gesehen werden konnten. Um die große Bandbreite und die Qualität des Line Ups vor Augen zu führen, sollen hier stellvertretend noch Namen wie Cedric Burnside, Hans Theessink, Cara Dillon, Jerron Paxton, Del Barber, Jeffrey Martin und The Small Glories genannt werden.

Roadtracks blickt auf vier grandiose Tage zurück und freut sich jetzt schon auf das Lieblingsfestival in 2023!

Ein Review von Andreas Paßmann
Photos: Volker Ebert