ANAIS MITCHELL

Januar 2022 Interview - Shipbuilding

Obwohl man von Anaïs Mitchell als Solo-Künstlerin seit dem 2014er Album „Xoa“ eigentlich nichts mehr gehört hatte, war sie dennoch keineswegs „weg vom Fenster“. Schuld daran waren vielmehr diverse andere Projekte, an denen Anaïs beteiligt war – vor allen Dingen aber ihr Magnum Opus „Hadestown“, das 2010 zunächst als Tonträger erschien, an dem sie parallel aber auch als Theaterstück arbeitete. Dieses fand von 2016 an den Weg auf die Bühnen in New York, Edmonton, London und 2019 schließlich an den Broadway. Daraus resultierten 2017 und 2019 gleich zwei Original-Cast-Recordings, an denen auch Anaïs beteiligt war. Parallel dazu arbeitete Anaïs mit ihren Kollegen Josh Kaufman und Eric D. Johnson an einem erfolgreichen Americana-Supergroup-Projekt namens Bonny Horse Lightman, veröffentlichte Ende letzten Jahres ein Buch über die Texte von Hadestown und auch für das zweite Album des Mega-Produzenten-Projektes Big Red Machine von Aaron Dessner von The National und Justin Vernon war Anaïs tätig. Und schließlich ist Anaïs auch gerade zum zweiten Mal Mutter geworden. Wie dem auch sei: Im Rahmen der Pandemie hatte Anaïs dann auch wieder Zeit, an eigenem Material zu arbeiten.

Ist es denn auch ein Pandemie-Album geworden?

„Ja, das ist definitiv ein Pandemie-Album geworden“, gesteht Anaïs, „ich lebte ja seit einigen Jahren in New York und arbeitete dort an 'Hadestown' – das einen großen Teil meines Lebens einnimmt. Als die Show dann 2019 am Broadway startete, erwartete ich gerade mein zweites Baby und war gerade im 9. Monat schwanger als die Pandemie begann und New York City erreichte. Ich fasste die spontane Entscheidung, zu verschwinden und fuhr zurück in meinen Heimatort in Vermont. Meine Eltern haben dort eine Schaf-Farm und ein Haus und auch mein Bruder und seine Familie haben dort ein Haus. Auch meine Großeltern hatten ein Haus auf der Farm, als sie noch lebten. Dorthin sind wir gezogen. Eine Woche später kam dann das Baby und unser Leben veränderte sich radikal – was sicherlich auch für viele andere Menschen in der Pandemie zutrifft.“

Das heißt, dass die Pandemie für Anaïs auch eine Art Chance war?

„Für viele Menschen war das sicherlich eine sehr traumatische Erfahrung“, resümiert Anaïs, „auf der anderen Seite konnte es aber auch eine sehr heilsame Erfahrung für solche Menschen sein, die es sich erlauben konnten, sich von allem loszulösen und sich wieder auf die Familie, die Natur und solche Sachen beziehen zu können. Aus dieser Situation heraus entstand dann schließlich die Scheibe.“

Die Scheibe enthält einen älteren Song namens „Now You Know“, den Anaïs schon einige Zeit im Programm hatte, der aber thematisch ganz gut zu diesem Thema passte und mit Zeilen wie „When I think about dying, I think about children. And when I think about children, I think about you. And when I think about you, I feel like crying, crying for my youth“ diese Thematik zu antizipieren schien.

Ist das der Grund, warum er nun als einziger Prä-Pandemie-Song trotzdem mit auf die Scheibe gelangte?

„Ja - das ist insofern lustig, als dass dieser Song als einziger die Sache vorwegnahm – denn die anderen Songs entstanden alle in dem Pandemie-Sommer und Herbst“, erinnert sich Anaïs, „ich hatte schon lange mit diesem Song herumgespielt – und zwar bevor ich selber Kinder hatte. Als ich schrieb: 'When I Think about dying, I think about children' war das der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich ja nicht ewig leben werden. Solche Momente hat man ja schon mal – und damals begann ich mehr über Sterblichkeit nachzudenken, und dass ich gerne Kinder haben wollte.“

Was ist denn Anaïs' Antrieb, Musik zu machen? So, wie sie das beschreibt klingt es so, als schreibe sie Songs als therapeutisches Mittel.

„Oh ja – das ist eine wichtige Sache, die Du da ansprichst“, überlegt Anaïs, „Songs zu schreiben ist nämlich schon ein bisschen wie eine Therapie. Ich habe übrigens in der Mitte der Pandemie gerade erstmals eine richtige Therapie gemacht – und das war sehr erhellend. Also: Songs zu schreiben ist teils Therapie, teils eine spirituelle Übung und es geht darum, herauszufinden, was für mich wichtig und richtig ist, wo sich die Gefühle verstecken, wo ist diese Grenze an der ich mich fühle, als müsse ich gleich weinen. Und dann gibt es noch dieses andere Element, über die ich keine Kontrolle habe. Das ist die Muse – der Teil des Songs, der sich ohne mein Zutun offenbart und mysteriös ist. Ich muss mich also dem gegenüber öffnen, wohin der Song dann will.“

Womit wir wieder an dem Punkt wären, an dem Musik ein Eigenleben entwickeln kann.

„Ja, das ist das, was mich dazu bewegt, es immer wieder zu versuchen“, fügt Anaïs hinzu, „wenn es bloße Therapie wäre, dann wäre das nicht so.“

Was ist denn der Unterschied zwischen echter und songwriterischer Therapie?

„Also als ich aufwuchs ging auch niemand zur Therapie, der nicht dazu gezwungen wurde“, verrät Anaïs, „da hat es in den USA einen Wandel gegeben, der dazu führt, dass man sich fast schon dafür rechtfertigen muss, wenn man nicht zur Therapie geht. Ich denke, dass das Schreiben von Songs deutlich länger dauert, als eine Therapie zu machen – aber es macht mehr Spaß. Ich fand es aber auch schön, mit jemand zu einem verabredeten Zeitpunkt über meine Gefühle sprechen zu können. Was ich dabei herausgefunden habe ist folgendes: Ich mochte nicht jedes Mal die gleichen Geschichten erzählen. Und wenn ich feststellte, dass ich immer die gleichen Geschichten erzähle, war das vielleicht ein Zeichen dafür, dass ich mal bewegen muss, mit jemandem sprechen sollte oder etwas in meinem Leben ändern müsste.“

Ist es nicht so, dass Anaïs in ihren Songs zuweilen sogar Gespräche mit sich selbst führt?

„Ja – das wollte ich noch sagen: Den Song 'I'm A Big Girl Now' habe ich schon 2017 angefangen und konnte ihn nie zu Ende bringen – bis ich feststellte, dass ich erst mal noch ein paar Erfahrungen sammeln musste um herausfinden zu können, was mir wichtig ist. Dieser Songs wollte nämlich eine Feministische Hymne werden – und das fühlte sich nicht richtig an. Es ist nämlich kein Song über jemanden, der Antworten bereit hält, sondern einer über eine frustrierte Person mit Fragen. Das musste ich erst mal mit mir selbst ausmachen.“

Ist es aber nicht sowieso so, dass eine philosophische Songwriterin wie Anaïs Mitchell nun mal ein ist, sowieso eher Fragen stellt als Antworten sucht?

„Kunst im Allgemeinen lebt ja oft in einer Welt der Fragen“, überlegt Anaïs, „wir sollten es der Politik überlassen, Antworten zu finden.“

Wie haben sich die Arbeiten an dem Album denn musikalisch gestaltet?

„Wir hatten das Glück uns trotz der Pandemie in einem Raum versammeln zu können – gerade weil das momentan ja nicht selbstverständlich ist“, führt Anaïs aus, „das Album wurde von meinem Bandkollegen Josh Kaufman (von Bonny Horse Lightman) produziert. Er ist ein großartiger Produzent, der in letzter Zeit auch gut beschäftigt ist. Wir haben uns in meinem Lieblingsstudio - dieser schönen alten Kirche in Hurley, Upstate New York – versammelt. Einige Musiker sind dann per Auto aus dem mittleren Westen angereist wie z.B. Drummer J.T. Bates oder Mike Lewis an Bass und Saxophon und Thomas Bartlett und Aaron Dessner (von The National) sind aus New York hochgefahren. Es wollte ja zu der Zeit niemand mit dem Flugzeug fliegen. Wir haben uns mit unseren Tests in diese Bubble begeben. Ich wollte mit den Jungs spielen, weil es brillante Musiker und meine Freunde sind – was mir sehr wichtig war.“

Die ganze Scheibe klingt dabei so lebendig, als sei sie spontan improvisiert worden - was ja offensichtlich nicht der Fall sein konnte.

„Nein – aber wir haben versucht, so viel wie möglich zusammen live einzuspielen“, verrät Anaïs, „wir sind dabei aber keine Puristen und wenn nötig wird auch mal etwas geschnitten oder ergänzt. Es stellte sich dann aber heraus, dass die Songs am liebsten live eingespielt werden wollten. Später hat dann Nico Muhly in New York einige Streicher-Arrangements beigesteuert, die später als Overdubs hinzugefügt haben.“

Was zeichnet denn Josh Kaufman als Produzenten aus?

„Josh ist als Produzent sehr fokussiert – aber auch unglaublich entspannt“, berichtet Anaïs, „da entsteht dann so ein Gefühl, als versuche er einen bestimmten Sound einzufangen – aber andererseits sitzen alle sehr entspannt zusammen uns schauen einfach, was passiert. Die Prämisse war, dass nichts die Texte und die Gesangsperformance stören sollte. Es gibt also keine 'Konkurrenz' von anderen Instrumenten. Ich denke, er wollte eine Art klangliches Bett für die Geschichten erschaffen.“

Wonach sucht denn Anaïs Mitchell selbst?

„Ich würde sagen, dass Musik für mich sehr intuitiv funktioniert. Texte hingegen überarbeite ich ständig immer wieder. Ich liege nachts wach und überlege, was die richtige Zeile sein konnte. Musik hingegen kommt mit der Inspiration – oder überhaupt nicht. Wonach ich suche ist ein Gefühl – und zwar ein physisches Gefühl. Wenn sich für mich etwas richtig anfühlt, dann spüre ich das in meinem Körper – und öfters bringt mich das zum Weinen. Ich würde auch sagen, dass, indem ich älter werde, an einem Musical gearbeitet habe und auch das Handwerk anderer sehr bewundere, heutzutage die handwerklichen Aspekte und die Struktur eines Songs zu würdigen weiß. Wenn man eine Struktur für einen Song gefunden hat, dann ist das, als habe man ein Haus oder ein Schiff gebaut, das seinen Weg in die Welt auch ohne Dich finden kann.“

Words: Ullrich Maurer

» Website: https://www.anaismitchell.com/
» YouTube: Video „Bright Star“
» YouTube: Video „Brooklyn Bridge“