CALEXICO

April 2022 Interview - Lost in Music

Ein Pandemie-Projekt hatten Calexico ja eigentlich mit dem Ende 2020 veröffentlichten Weihnachtsalbum „Seasonal Shift“ bereits abgehakt. Wie so viele andere auch, hätten aber sicher auch Joey Burns, John Convertino und Sergio Mendoza – die momentan das Kerntrio der Band ausmachen – nicht damit gerechnet, dass die Pandemie auch zwei Jahre später noch ein Thema sein würde. Im Grunde genommen ist also das nun vorliegende neue Album „El Mirador“ (was soviel wie „Der Hinschauer“ oder „Der Ausguck“ bedeutet) bereits das zweite unter Pandemie-Bedingungen entstandene Calexico Werk.

Vielleicht rührt es dann aber gerade daher, dass „El Mirador“ vor allen Dingen ein positiv gestimmter, spielfreudiger, strahlender Kontrapunkt zum Pandemie-Totalitarismus geworden ist. Denn obwohl Joey inzwischen mit seiner Familie nach Boyse im ruralen Staate Idaho gezogen ist und John Convertino schon länger in El Paso lebt, nutzten die Musiker den Umstand, dass sich Sergio Mendoza in der ursprünglichen Calexico-Basis Tucson ein eigenes Studio eingerichtet hatte, und spielten das neue Material dann auch dort gemeinsam ein. Lediglich die Gast-Beiträge alter Kumpels – wie z.B. die Vocals von Sam Beam (Iron & Wine) oder die Gitarrenparts von Jairo Zavala (Amparanoia) – wurden dann Lockdown-gerecht extern hinzugefügt.

Joey ist im Juni 2020 mit seiner Familie nach Boyse, Idaho umgezogen. Immerhin war ja der Standort Tucson dereinst maßgeblich für die Entstehung des legendären Wüstenrock-Sounds.

Heißt das denn, dass er sich zukünftig auch musikalisch von der neuen Umgebung beeinflussen lässt?

„Nein“, meint Joey, „ich fahre immer noch nach Tucson um Musik zu machen und aufzunehmen. Das ist meine musikalische Heimat. Ich bin also von Idaho nach Arizona geflogen, um mich dort mit John Convertino zu treffen, der ja in El Paso, Texas lebt und von dort nach Tucson fuhr. Sergio Mendoza, unser Keyboarder hat dort ein eigenes Studio aufgebaut – und das hat es uns ermöglicht, eine Scheiben zusammen zu machen.“

Die neue Scheibe ist aber erneut von der Pandemie beeinflusst, oder?

„Ja, das ist ja unsere zweite Pandemie-Scheibe“, bestätigt Joey, „sie ist natürlich von allem, was auf der ganzen Welt passiert beeinflusst worden.“

Da ist ja zwischenzeitlich noch einiges hinzugekommen.

„Du meinst die Situation in der Ukraine?“ fragt Joey, „das ist in der Tat das größte Ding, was ich gerade verfolge. Unser Nachbar hier ist in Sumy in der Ukraine geboren und hierher gezogen, als er 10 war. Er hat eine Sammlung von Künstlern organisiert, zu der bislang über 200 Künstler beigetragen haben. Ich habe eine LP signiert und ihm zum Versteigern gegeben. Er hat schon 20.000 $ in fünf Tagen gesammelt. Das ist eine traurige Geschichte und verheerend anzusehen. Meine Meinung ist, dass wir Musik mehr denn je in Zeiten wie diesen brauchen.“

Und das spiegelt sich dann vermutlich ja auch in der positiven Note der neuen Calexico-Songs wieder, oder?

„Ja – was ich mir vorgestellt hatte, war, etwas Medizinisches zu machen“, führt Joey aus, „ich wollte etwas machen, was uns aus der Isolation holt und die Leute zusammenbringt. Ich wollte Rhythmen finden und mich auf Grooves konzentrieren, etwas machen, mit dem sich die Leute identifizieren können und vor allen Dingen Menschen zusammenbringen sollte.“

Also wie so eine Art Gegenmittel?

„In diesem Stadium sicher“, schmunzelt Joey, „wie hast Du denn die Pandemie verarbeitet? Wenn man als Musiker nicht auf Tour gehen kann, ist das ganz schön hart. Ich hoffe ja mal, dass das mit der geplanten Tour in Europa klappen wird. Momentan sieht ganz gut aus. Ich schaue auf Instagram und facebook nach, wie die Touren von Freunden laufen. Curtis Harding tourt gerade in Frankreich. Caribou spielen in Berlin … Mal sehen. Ich meine es gab ja einige Künstler, die Online-Shows gespielt haben – Jeff Tweedy oder Amos Lee etwa - aber das ist ja nur gut, um mal zu sehen, ob es die Leute überhaupt noch gibt und ob es ihnen gut geht.“

Ist das auch der Grund dafür, dass es auf der neuen Scheibe viele Cumbia-Rhythmen gibt? Oder hat das vielleicht auch etwas mit der Popularität zu tun, zu der Joeys Kumpels Brian Lopez und Gabriel Sullivan dieser Musikgattung mit ihrem XIXA-Projekt verholfen haben?

„Ich mag die Jungs – das sind ja gute Freunde von mir“, räumt Joey ein, „Brian Lopez wird mit uns auch in Europa auf Tour gehen. Es ist für mich schön für mich zu sehen, dass Cumbia jetzt so populär ist. Der erste Cumbia Song, den wir 2002 aufgenommen haben, war 'Guero Canelo' vom Album 'Feast Of Wire'. Cumbia kommt ja ursprünglich aus Kolumbien – aber inzwischen haben sehr viele verschiedene Länger ihre eigene Cumbia-Version. Dass Cumbia jetzt so populär ist, sagt ja viel über seine Herkunft und Kultur aus. Das ist auch der Grund, warum ich den Song 'Cumbia Peninsula' so genannt habe. Er hätte auch 'Silver & Gold' nennen können. Aber seinen Ursprung hatte er auf einer kleinen Halbinsel im Nordwesten der Pazifik-Küste. – und das wollte ich dann so lassen. Cumbia steht für die Mischung und für Diversität. Mein Freund Camilo Laura, der das Projekt Mexican Institute of Sound hat und für uns den Song 'Cumbia del Polvo' gemischt hat, hatte bereits 2019 vorgeschlagen, eine Scheibe mit Cumbia- und Mariachi-Songs zu machen. Das war eine tolle Idee, wie ich dachte, und mit dieser Prämisse sind wir das neue Album angegangen. Es sollte 6 eher experimentelle und 6 eher konventionelle Calexico-Songs geben. Das hat nicht ganz geklappt – aber mein Punkt ist der: Man kann nicht vortäuschen, wer man ist. Ich denke, dass ich, John und Sergio allen Musikstilen gegenüber, die wir mögen und verkörpern, treu geblieben sind. Ich wollte aber auch einigen der anderen Mitgliedern in der Band eine Stimme geben. Neben Sergio auch Jacob Venezuela, Gaby Moreno aus Guatemala, Jairo Zavala von der spanischen Band Amparanoia und Camilo Lara auch. Ich wollte besonders deren Stimmen in den Mittelpunkt stellen, wegen der politischen Implikationen und wegen der gesellschaftlichen Situation. Es sollte nicht nur der Standpunkt von Nord-Amerika vertreten werden.“

Das bringt uns zu der Standardfrage, was denn die größte Herausforderung als Songwriter für Joey ist – wenn es nicht darum geht, etwas vollkommen neues erschaffen zu wollen.

„Ach weißt Du, die größte Herausforderung ist die, authentisch zu bleiben – musikalisch und inhaltlich“, erklärt Joey, „und wie man etwas schreibt, dass für einen 10jährigen oder einen 8-jährigen Sinn macht? Musik wird ja oft kurzfristig gedacht oder zielt nur auf ein kleine Gruppe von Menschen. Kaum jemand denkt darüber nach. Indem ich aber nun 54 Jahre alt bin, sehe ich aber, wie stark meine Kinder auf Musik reagieren – egal ob es um ACDC oder Lizzo geht. Sie suchen nach etwas, was für sie – als jemand der noch keine Dekade auf dem Planeten ist – Sinn macht. Ich möchte herausfinden, was sie an der Musik mögen und begeistert. Das ist die größte Herausforderung: Wie kann man etwas machen, dass zu dieser Zeit auf diesem Planeten Sinn macht – und dabei bedenkst, was es alles schon an großartiger Musik vor uns gegeben hat. Es ist einfach, etwas zu kopieren – und das machen ja viele. Ich räume ja ein, dass ich das auch schon versucht habe – aber ich kann es einfach nicht. Wenn ich ein Instrument zur Hand nehme und in dieser Richtung denke, entsteht automatisch etwas vollkommen anderes. Ich bin ein großer Fan davon, sich die Sachen zu eigen zu machen und sich in der Musik zu verlieren.“

Mit Musik kann man ja auch ganz gut die Generationen überbrücken, oder?

„Total“, bestätigt Joey, „nach dem Frühstück hat mich meine Tochter angeschaut als sei ich halb verrückt – aber sie schien auch glücklich zu sein, dass ich eine gute Zeit hatte. Für zwei Minuten war ich ein Clown – aber andererseits will ich andere inspirieren, sich auch gehen zu lassen. Musik ist einfach aufrichtig und authentisch. Ich mache das jetzt lange genug, um zu wissen, dass gerade unser Publikum aus mehreren Generationen besteht – speziell in Deutschland. Das gefällt mir sehr gut. Wenn ich auf Tour bin, will ich immer wissen, was aus den Kids geworden ist, die wir vor 10 Jahren zum ersten Mal getroffen haben. Ich weiß, dass sie da sind, weil wir die Art von Musik spielen, mit der sie sich auch über ihre Eltern oder Verwandten und Freunde identifizieren können. Je weiter südlich wir spielen – Italien, Frankreich, Spanien desto jünger wird übrigens unser Publikum.“

Mal auf dem Nerd-Level gefragt: Hat Joey alle Gitarren auf der Scheibe gespielt? Denn da geht soundmäßig ganz gut etwas ab, dass sich teilweise deutlich vom üblichen Calexico-Wüsten-Twang abhebt.

„Ich habe viel Gitarre gespielt“, listet Joey auf, „für den Titeltrack hat unser guter Freund Allessandro Stefana aus Italien das Gitarrensolo, Banjo und Lapsteel gespielt – der auch für PJ Harvey spielt. Und Jairo Zavala spielt auf 'Cumbia Peninsula'. Bei dem Song 'Turquoise' spiele ich eine Jazzmaster Gitarre mit 60's Sound. Und Jairo Zavala spielt auf 'Cumbia Peninsula'. Auf dem Song 'Harness The Wind' versuchte ich die technischen Aspekte mit einer evokativen Ebene zu verbinden. Bei dem Track 'Then You Might See' ließ ich mich von meinen Lieblings-Bands aus den 80ern – wie The Smiths, The Cure oder REM – inspirieren. Wichtig war, dass es geradlinig und einfach sein sollte und ich nicht großartig drüber nachdenken wollte. Es gibt verschiedene Ebenen von Gitarrensounds – was mir sehr gut gefiel. Ich hatte Spaß am gesamten Prozess. Schön, dass Dir die Gitarrensounds gefallen – aber eigentlich war es dann John, der neue Sachen ausprobiert hat. Er hat während der Pandemie verschiedene technische Sachen ausprobiert, die eigentlich ganz subtil waren, für ihn und uns aber ein großes Ding für uns sind. Da bin ich stolz drauf. Auch, dass John zugelassen hat, dass wir seine Drums gesampelt haben und Camilo beauftragten, damit rumzuexperimentieren.“

Das erklärt dann also die Sample-Sounds auf dem Album. Was zu einem interessanten Gedanken führt: Bei den Gesprächen zum ersten „echten“ Calexico-Album „Hot Rail“ erzählte Joey noch davon, dass die Band ursprünglich vorgehabt habe, mit Samples aus der Single-Sammlung von John's damaliger Frau Tasha zu experimentieren – bis sie dann zufällig im Studio nebenan die Mariachi-Spieler getroffen hatten, die seither ein integraler Bestandteil des Calexico-Sounds sind.

Ist eigentlich etwas aus dieser frühen Grundidee geworden?

„Als wir die Scheibe 'Hot Rail' eingespielt hatten, haben wir nachher Anrufe von Goldfrapp, Andy Weatherall und Go-Tan-Project bekommen und die fragten uns, ob wir nicht Remixe von deren Musik machen könnten. Sie wollten aber eigentlich keine Remixe, sondern dass wir deren Musik interpretieren sollten. Mir gefiel der Gedanke. Aber anstatt mit Bezahlungen zu arbeiten habe ich einen Tausch vorgeschlagen. Das war dann der Anfang einer Phase, in der wir angefangen haben, mit Samples zu arbeiten. Letztlich hat das aber dazu geführt, uns das Selbstbewusstsein anzueignen, sein können, wer wir sind. Ich liebe aber Remixe. Unser neuer Song 'Cumbia del Polvo' ist eigentlich die Kulmination dieses Gedankens, der vor 20 Jahren seinen Ausgang nahm.“

Gibt es denn für jemanden wie Joey Burns noch unerreichte musikalische Ziele oder Wünsche?

„Mann da gibt es viele“, holt Joey aus, „ich würde gerne noch mal nach Cuba. Ich würde gerne mit cubanischen Musikern und Singer/Songwritern dort arbeiten. Es gibt aber auch eine Menge anderer Singer/Songwriter, die ich sehr verehre und mit denen ich gerne mal arbeiten würde. Etwa Pieta Brown, mit der ich schon lange mal was zusammen machen wollte oder Kevin Morby, den ich neulich erst kennengelernt habe. Ich liebe seine Stimme und seinen Ansatz. Ich traf neulich auch Curtis Harding. Und Ibeyi finde ich auch ganz toll. Es wäre aber auch interessant mit Leuten, die ich schon länger kenne zu arbeiten – wie z.B. Jason Isbell, der ungefähr mein Alter haben müsste. Oder Robert Plant, der uns schon öfter geschrieben hat, dass er unsere Band mag.Ich mag es aber auch Musik für Filme oder Radio-Hörspiele zu schreiben. Vor dieser Scheibe habe ich Instrumentalmusik für einen Blog gemacht – und das hat auch Spaß gemacht. Und dann wollte ich immer schon mal ein Album nur mit John machen – nur wir beide mit limitierter Instrumentierung und total analog. Es ist nämlich so, dass wir manchmal zu digital und fokussiert denken. Das wurde mir klar, als ich neulich ein Interview sah, dass Rick Rubin mit Paul McCartney geführt hatte und in dem einige Tracks isoliert zu hören waren und ganz locker, rau und verzerrt klangen. Das machte mir klar, dass unsere Perspektive zu eng ist und wir wieder lernen sollten, wieder lockerer zu werden. Es gibt so viele mögliche Projekte und Ideen.“

Words: Ullrich Maurer

Photo: Holly Andres

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