ANNIE KEATING

August 2023 Interview

Irgendwie muss man sich ja mit dem Musik-Business arrangieren. Zu dieser Erkenntnis kommen die meisten MusikerInnen, die mit ihrer Musik ihren Lebensunterhalt bestreiten möchten, über kurz oder lang. Das führt dann zu Kompromissen, die nicht immer der eigenen, künstlerischen Vision entsprechen. Ergo sucht man dann nach Wegen, eine Balance zwischen künstlerischer Integrität und Freiheit und den notwendigen geschäftlichen Entscheidungen zu finden. Und so kam es dann, dass die New Yorker Songwriterin Annie Keating ihr letztes Album „Hard Frost“ nicht nur ohne Label, sondern auch ohne Promotion-Unterstützung veröffentlichte. Ein mutiger Schritt auch heutzutage noch, der aber sich insofern auszahlte, als das Annie – zumindest in den USA - auf eine solide Fanbasis zählen kann und ihr obendrein ermöglichte, ihr inzwischen beachtliches Repertoire unter eigener Kontrolle zu behalten. Musikalisch hat sich Annie mit ihrem zeitlosen Roots-Rock- und klassischem Songwriting-Ansatz im Americana-Genre eingerichtet und verfolgt mit ihrer Musik eine konsequente Art der Selbstverwirklichung.

Wie lange hat es denn gedauert, bis sie an diesem Punkt angekommen war – speziell in Zeiten wie diesen, wo alles digital läuft?

„Nun ich habe ja jetzt 9 Studioalben und zwei EPs veröffentlicht“, berichtet Annie, „Gitarre zu spielen habe ich bereits mit 12 gelernt und ich habe in meinem Kopf eigentlich immer schon Songs geschrieben. Aber als ich dann zur Universität gegangen bin, habe ich mich politisch stärker engagiert und habe dann zunächst mal in einer NGO für politische Gerechtigkeit gearbeitet. Diesen Job habe ich dann 10 Jahre inne gehabt und als dann meine Tochter geboren wurde, habe ich im Alter von 30 Jahren realisiert, dass ich eigentlich ja immer schon Scheiben aufnehmen wollte und dass dieser Zeitpunkt dann eine gute Gelegenheit wäre, damit anzufangen, weil ich ja jetzt eh mehr zu Hause sein musste. Also habe ich meinen Dayjob gekündigt und mit 32 mein erstes Album veröffentlicht. Natürlich habe ich dann versucht, die verlorene Zeit aufzuholen. In der Pandemie hatte ich insofern Glück, als dass ich ziemlich unabhängig mit meiner Mutter auf einer Farm in Massachusetts ausharren konnte und diese Zeit sich dann als für mich recht produktiv und kreativ darstellte – natürlich abgesehen von den ganzen Unbilden, die die Zeit so mit sich brachte. Als sich die Dinge dann so verlangsamten, brachte mich das dazu, etwas introspektiver zu arbeiten.“

Inwieweit hat es sich denn auf ihr Songwriting ausgewirkt, dass sich Annie in einer NGO politisch engagiert hatte?

„Es hat sich nicht ausgewirkt, denn es ist schwer, über politische Dinge zu schreiben ohne sich schulmeisterlich anzuhören“, gibt Annie zu bedenken, „ich habe das ansatzweise einmal ausprobiert - beispielsweise in dem Song 'Mother Of Exile“ auf einer meiner EPs. - und ich denke, dass es funktioniert hat, aber da ich für gewöhnlich aus einer sehr persönlichen Sichtweise heraus schreibe, findet die Politik normalerweise nicht ihren Weg in meine Texte.“ Nun ja – die Zeit der großen Protestsänger scheint ja auch vorbei zu sein. „Ja, schon“, überlegt Annie, „Jason Isbell scheint mir aber immer politischer zu werden. Sinead O'Connor war ja auch politisch engagiert. Sie war aber eine Aktivistin, die über ihre Musik kritisiert und dann auch verbannt wurde. Die Indigo Girls auch. Das ist halt ein heikles Geschäft. Speziell, wenn Du Fans im Süden hast. Ich schreibe halt über Dinge, die mir wichtig sind – zum Beispiel auch über den Klimawandel. Aber wie gesagt: Es ist heikel.“

Musikalisch scheint Annie Keating keine besondere Vorliebe zu haben. Nicht nur, dass sich alle ihre Scheiben unterschiedlich anhören – es kann sogar vorkommen, dass jeder einzelne Song einer anderen musikalischen Genussmittelklasse zuzuordnen wäre.

Wie geht Annie ihr Material musikalisch an?

„Das ist eine gute Frage“, überlegt sie, „ich würde sagen, dass einige Leute schon sagen würden, dass ich einen Americana-Sound habe, aber ich versuche, jedem Song das zu geben, was er braucht oder sein will. An ein bestimmtes Genre denke ich dabei nie. Ich probiere lieber etwas aus und experimentiere auch ein Mal. Wenn man sich als Künstler weiterentwickeln will, dann will man sich ja nicht immer wiederholen. Ich möchte jedenfalls nicht einem bestimmten Format folgen, sondern Dinge ausprobieren. Das macht sich auch deutlich, wenn man mit jemand Neuem arbeitet. Ich habe früher zum Beispiel mit einem Produzenten namens Jason Mercer zusammengearbeitet, der aber nach Kanada gezogen ist. Als ich meine letzten beiden Alben „Bristol Country Tides“ und “Hard Frost“ gemacht habe, bin ich mit Teddy Kunkel gewechselt - und der hat einen ganz anderen Fokus gehabt und mich in Richtigen geführt, in die ich zuvor noch nicht gegangen war. Er hat auch eine große Bandbreite als Gitarrist. So spielt er zum Beispiel in der Band von Joe Jackson und hat meinen Blick auf andere Effekte gerichtet. Manchmal braucht es einfach Leute, die Dich in die richtige Richtung drängen.“

Und was ist die richtige Richtung? Was zeichnet einen guten Song für Annie Keating aus?

„Wie er mich fühlen lässt“, antwortet sie, „in meinem Alter weiß ich aber auch sehr die Qualität handwerklich gut ausgeführter Texte zu schätzen. Und die Struktur: Wenn ich einen Song höre, der genau in die offensichtliche Richtung geht, die man erwartet, dann ist das nicht spannend. John Prine ist einer meiner Lieblings-Songwriter, denn er versteht es Humor in seine Songs einzuflechten. Er kann Dich zum Lachen oder zum Weinen bringen. Und seine Texte sind nach meiner Meinung nach sehr schön formuliert. Das gilt auch für Jason Isbell.“

Was zeichnet denn schön formulierte Texte für Annie aus?

„Ich schreibe meistens aus der eigenen Perspektive und nur selten – wie in dem Song 'Doris', den ich über meine Mutter geschrieben habe, über andere Personen“, beschreibt Annie ihre Sicht, „und dann sind Spezifika sehr wichtig. Ich sage immer: Präsentiere alles, aber erkläre nicht alles. Es ist sehr viel kraftvoller, etwas über Bilder oder Details zu vermitteln, als alles auszubuchstabieren. Das habe ich besonders auf den letzten beiden Alben gemacht – und dort mit Metaphern und Bildern gearbeitet, anstatt Sachen wie 'I miss you' oder so etwas auszusprechen. Auf meinem letzten Album ist ein Song namens 'Falling', der davon handelt, jemanden zu vermissen, das aber nicht ausspricht, sondern anhand von Szenen – einem Abend im Mondschein oder einem Boxer, der nicht liegen bleibt, wenn er hinfällt – all die Dinge aufzulisten, an die ich denken würde, wenn ich jemanden vermisse.“

Was inspiriert Annie musikalisch? Hört sie sich auch zeitgenössische Musik an oder lässt sie sich von Klassikern inspirieren?

„Nun aufgewachsen bin ich mit zwei älteren Brüdern“, führt sie aus, „die haben mir bei meiner musikalischen Erziehung schon geholfen. Ich habe in meiner Jugend also viel Jackson Browne, Tom Petty, Joni Mitchell, Bob Dylan, die Stones oder Rickie Lee Jones gehört. Aber ich suche auch immer nach neuen Sachen. Gerade habe ich zum Beispiel die Scheibe von Tommy Prine – John Prine's Sohn – gehört. Ich denke, er hat die Melancholie und die Zärtlichkeit von seinem Vater geerbt, ist aber vielleicht weniger humorvoll. Und er kann Dinge gut beschreiben. Wenn ich selbst Songs schreibe, dann denke ich auch oft daran, dass es wirklich gut ist, wenn man ein paar Songs im Repertoire hat, mit denen man dann bei Konzerten die Leute zum Tanzen bringen kann. Deswegen habe ich Songs wie 'Lovesick Blues' oder 'On The Loose' im Angebot, die mehr in Richtung Rock'n'Roll gehen und die richtig Spaß machen, wenn man sie live spielt. Wenn man nur ruhige Songs spielt, dann sind das keine besonders aufregenden Live-Shows.“ Die Sachen werden dann auch im Studio live eingespielt, richtig? „Ja, ich mag es, die Stücke ohne viele Overdubs einzuspielen“, bestätigt Annie, „ich hoffe, dass man die Energie der Musiker, die im Studio zusammenspielen, dann auch hören kann.“

Was treibt Annie in kreativer Hinsicht an?

„Insbesondere lyrisch bemühe ich mich, ständig zu wachsen“, erklärt Annie, „ich lese eine Menge Bücher, die mich zum denken anregen, ich über mich in verschiedenen Techniken wie dem Objekt-Schreiben oder Nomen/Verb-Kombinationen, ich denke mir neue Metaphern aus und ich arbeite mit anderen Songwritern zusammen. 'Sunshine Parade' ist ein gutes Beispiel. Ich habe verschiedene Wortkaskaden und -Kombinationen ausprobiert und bin dann bei der Kombination 'Sunshine Parade' hängen geblieben. Man darf nur nie das offensichtliche sagen. John Prine hat zum Beispiel eine Zeile die heißt 'I miss you in the morning like roses miss the dew'. Man würde ja normalerweise nicht annehmen, dass Rosen Tau vermissen können – aber wenn man das hört, dann öffnet einem das ganz neue Türen. Es braucht also ein gewisses Geschick, Formulierungen zu finden, auf die wir uns für gewöhnlich nicht verlassen.“

Reicht das dann bis hin zur Poesie?

„Ja, ich habe das versucht“, gesteht Annie, „aber ich habe keine besondere Expertise oder Erfahrungen mit der Poesie. Aber manchmal mache ich so etwas als Übung. Ich lese mir dann ein gutes Gedicht durch und versuche, etwas adäquates zustande zu bringen. Dichter denken viel über Wortwendungen nach und sie sind gut darin zu Reimen. Und das Reimen ist ein wichtiger Teil des Song-Schreibens.“ Und wie funktioniert der kreative Prozess dann musikalisch? „Ich mag ich es sehr, mit verschiedenen Sounds zu operieren“, verrät Annie, „ich mag zum Beispiel den Klang von Slide-Gitarre, Mandoline, Banjo, Bariton-Gitarre und Dobro. Ich kann diese Instrumente gar nicht alle selber spielen, aber ich kenne glücklicherweise Leute, die das können. Diese Instrumente passen natürlich nicht zu jedem Song – aber es ist gut, eine gewisse Bandbreite zur Verfügung zu haben. Man spielt dann herum und versucht dieses und jenes, bis es passt. Das ist wie ein Kinderspiel. Wenn etwas passt, dann merkst Du das schon.“

Was ist die größte Herausforderung für die Songwriterin Annie Keating?

„Das ist eine gute Frage“, überlegt Annie, „die größte Herausforderung für mich ist vielleicht die tägliche Übung. Ich tendiere nämlich dazu, zu schreiben, wenn ich inspiriert bin. Es gibt als Phasen, in denen ich sehr produktiv bin. Zwischen meinen letzten beiden Scheiben 'Bristol Country Tide' und 'Hard Frost' habe ich über 30 Songs geschrieben – aber in den letzten neun Monaten habe ich nicht einen einzigen Song geschrieben. Ich muss das natürlich akzeptieren – aber auf der anderen Seite muss es auch eine tägliche Routine geben. Man muss sich dann halt in den Zustand versetzen, inspiriert zu sein – sonst wird man schnell faul. Und was die Texte betrifft, so denke ich manchmal, dass alles irgendwie schon mal gemacht worden ist – und so fühlen sich viele Songwriter. Die Herausforderung ist dann dann die, dass ich mir Wege überlegen muss, einen weiteren Song mit drei oder vier Akkorden zu schreiben, obwohl ja alles irgendwie schon mal gesagt worden ist.“

Gibt es denn nicht auch geschäftliche Herausforderungen?

„Doch schon“, meint sie. „es ist aber eine große Hilfe, wenn die Leute meine Musik auf bandcamp herunterladen – besonders am bandcamp-Freitag – weil wir uns als Künstler so über Wasser halten können. Darüberhinaus biete ich meine Sachen auch physisch an – das ist aber ohne Vertrieb nicht ganz einfach.“

In den USA ist Annie ja ständig auf Tour - In unseren Breiten war Annie Keating aber noch nicht zu Gast, oder?

„Ich war bislang nur ein Mal in Deutschland“, berichtet Annie, „was eigentlich ziemlich blöd ist, denn ich kann ein wenig Deutsch sprechen, weil meine Mutter aus Deutschland stammt und wenn ich dann dort bin, kann ich mich ganz gut unterhalten. Ich hoffe, dass sich das in Zukunft ein Mal ändert, aber ich habe zur Zeit keinen Booker in Deutschland. Meine internationale Agentur ist hauptsächlich in England, Schottland und Irland tätig.“

Wollen wir mal hoffen, dass sich das irgendwann ein Mal bessert. Für Freunde gediegener Americana-Sounds ist Annie Keating jedenfalls genau die richtige Adresse.

Words: Ullrich Maurer

» Website: https://www.anniekeating.com/
» bandcamp: https://anniekeating1.bandcamp.com/
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