NATALIE MERCHANT

April 2023 Interview - Wir müssen reden

Neun Jahre ist es her, seitdem Natalie Merchant ihr letztes, selbst betiteltes Album mit neuem, eigenem Material veröffentlichte. Zwar gab es in der Zwischenzeit diverse musikalische Projekte der Grande Dame des gediegenen Songwritings – wie z.B. eine orchestrale Neuauflage des „Tigerlily“-Albums, ein ambitioniertes Boxed-Set-Projekt mit einem 80-seitigen Booklet und die Kollektion „Butterfly“, die ebenfalls orchestrierte Versionen älteren Materials enthielt – nur neue Stücke mochte Natalie in der Zwischenzeit nicht schreiben. Das hatte viele Gründe: So wollte sich Natalie intensiver um ihre Tochter kümmern, nahm für zweieinhalb Jahre eine Stelle als vollberufliche Kunsterzieherin für kleine Kinder an, betätigte sich gelegentlich als politische Aktivistin, nahm an Yoga-Lehrgängen teil, musste eine Operation am Rückgrat über sich ergehen lassen - in Folge derer sie zeitweise ihre Stimmer verlor und eine Hand nicht richtig bewegen konnte – und dann gab es ja auch noch die Pandemie. Kurzum: Es gab da wichtigere Dinge für Natalie, als neue Songs zu schreiben.

Der Funke zündete dann wieder auf einem Umweg: Der schottische Poet Robin Robinson schickte Natalie sein Buch „The Long Take“ zu. Das ist eigentlich ein Roman über einen fiktiven Charakter namens „Walker“, der den Regisseur Robert Siodmak bei der Produktion verschiedene Noir-Filme beobachtet – woher der Titel des Buches rührt. Robinson vermischte aber Prosa und Poesie als sprachliches Mittel, seine Geschichte zu erzählen. Es entwickelte sich darüber ein transkontinentaler Schriftwechsel, in dem sich Natalie und Robin auch über das Schreiben als Solches unterhielten – aber auch darüber, wie es ist, nicht zu schreiben. Das erinnerte Natalie dann daran, wie gerne sie eigentlich früher selber geschrieben hatte – und das brachte dann einen Prozess in Gang, der letztlich dazu führte, dass Natalie (nachdem sie wieder singen und ihre Hand bewegen konnte) sich eine Reihe von Themen suchte, über die es sich lohnen könnte, neue Gedichte zu schreiben. Denn das muss man Wissen: Das Schreiben von Songs beginnt bei Natalie Merchant nicht mit dem komponieren von Musik, sondern dem Schreiben der Texte.

Der Titel des Albums „Keep Your Courage“ bezieht sich dabei auf den Mut zur Liebe. Denn nachdem sie die Songs fertig hatte, stellte Natalie fest, dass sie den Begriff Liebe 26 mal in den neuen Texten verwendet hatte. Als Sinnbild für die Courage – die Natalie dann auch in Empowerment-Songs wie „Big Girls“ oder „Sister Tilly“ zum Ausdruck bringt - steht dabei Jeanne d'Arc, deren Abbild denn auch das Cover-Motiv ziert.

Wie war denn die Zeit der Pandemie für Natalie – die ja dafür bekannt ist, dass sie alleine an ihrer Musik arbeitet?

„Ja, ich bin jemand, der in der Einsamkeit aufgeht“, pflichtet sie denn auch bei, „aber zuviel alleine zu sein ist für niemanden wirklich gut. Was ich gemacht habe, ist die ganzen Kisten mit Briefen, Fotos und Journalen aufzumachen, die ich im Laufe der Jahre bekommen hatte. Da hatte sich viel angesammelt, was man ansonsten nicht so beachtet. Ich habe dann meine Fotos durchgeschaut und sortiert, denn das sind ja Artefakte meines Lebens, die sich schon lange in meinem Haus befunden haben. In den 60 Tagebüchern, die ich in der Zeit zwischen 18 Jahren und meinen 50ern geschrieben habe, fand ich mich mit den verschiedenen Facetten meiner selbst konfrontiert, denn die Person, die ich mit 18 oder 19 Jahren war, ist nicht die Person, die ich heute bin. Es gibt da vielleicht einige grundlegende, essentielle Sachen – aber die Erfahrung Form Dich ja im Laufe der Zeit.

Viele Songwriter beklagen ja, in der Pandemie stark auf sich zurückgeworfen gewesen zu sein – ohne Impulse von Außen empfangen zu können. War das Betrachten der Artefakte aus der Vergangenheit Natalie's Methode, diese fehlenden Impulse von außen kompensieren zu können?

„Ja, ich habe mir nämlich die Erfahrungen angeschaut, die mich geformt haben“, bestätigt Natalie, „und worüber ich da viel gelesen habe, war die Liebe. Meine Tagebücher waren da sozusagen mein Beichtvater. Ich musste mich dann damit auseinandersetzen, wie oft ich mich verliebt und wieder entliebt hatte. Ging es um Selbsttäuschung? Wurde ich betrogen? Verändern sich die Leute einfach mit der Zeit? Und was ist dafür verantwortlich? Die Antwort war dann, dass alles multikausal ist und es viele Gründe für alles gibt. Und dabei geht es nur um das Thema der romantischen Liebe. Ich hatte auch Freunde, die mir sehr nahe standen, die ich verloren hatte. Nun über Erlebnisse zu lesen, die ich mit Menschen hatte, die nun verstorben sind, hat diese sozusagen wieder zum Leben erweckt. Und der Schmerz über den Verlust war wieder gegenwärtig. Ich habe viel Schmerz über den Tod guter Freunde und Familienmitglieder erneut durchlebt. Es war also eine große Zeit der Retrospektive.“

Ging es vielleicht auch darum, nach möglichen neuen Erinnerungen zu suchen?

„Ich denke schon“, meint sie, „meine Tochter hat zum Beispiel die letzten anderthalb Jahre bei mir gelebt, bevor sie ans College gegangen ist. Wir haben die ganze Zeit während der Lockdowns aufeinander gehockt – und ich meine die ganze Zeit! Es gibt Leute die sagten: Wenn ich mit meinem erwachsenen Kind so lange zusammenleben müsste, würde mich das wahnsinnig machen. Ich habe aber jede einzelne Minute dieser Zeit geliebt. Mit meiner liebsten Person in der ganzen Welt zu einer Zeit zusammenzuleben, in der sie mich verlassen würde habe ich sehr geliebt. Aber ich verzettele mich hier – vielleicht solltest Du mir eine neue Frage stellen.“

Was ist denn Natalie's größte Sorge unsere Zeiten betreffend – speziell in den USA?

„Nun – nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt ist das die Klima-Krise“, meint sie sehr bestimmt, „es ist eine fürchterliche Vorstellung, einem Kind das Leben geschenkt zu haben, das in dem Alter, in dem ich nun bin feststellen muss, dass alles, was im Ozean lebte, gestorben ist. Und es ist denkbar, dass es südlich des Äquators zu heiß sein wird, um dort leben zu können. Wenn man sich die ganzen Prognosen anhört, dann scheint es doch so zu sein, dass diese jedes Jahr dahingehend korrigiert werden müssen, dass die bisherigen Annahmen zu positiv angelegt waren und alles in einer viel stärkeren Rate passiert. Was bedeutet das denn bitteschön für meine Tochter und ihre Generation? Und jedermann sonst, der das durchleben muss? Die Klimastörung ist meine größte Sorge. Ich nenne es auch Klimastörung, weil Klimawandel zu freundlich klingt. „Wandel“ lässt es auch so unausweichlich klingen und so, als haben wir nichts damit zu tun. Wir haben aber damit zu tun, weil wir das Klima durcheinander gebracht haben. Wir sind diejenigen, die versuchen müssen, diese Störung zu verlangsamen und am Besten aufzuhalten. Ich bin aber sehr pessimistisch, was das betrifft. Meine Sorgen werden langsam zur Verzweiflung.“

Dieses Thema spricht Natalie am deutlichsten in dem neuen Song „Tower Of Babel“ an, indem sie unsere Zeit mit jener in der Bibel gleichsetzt, als die Menschheit versuchte, einen Turm in den Himmel zu bauen und dabei von Gott gestraft wurde, indem er ihnen die gemeinsame Sprache nahm. Natalie geht dabei so weit, das Internet mit dem Turm zu Babel zu vergleichen.

Und vielleicht als verpasste Möglichkeit, aus Fehlern der Vergangenheit lernen zu können?

„Ja, denn wenn Du mal drüber nachdenkst, dann leben wir heutzutage ja auf gewisse Weise in einer goldenen Ära“, erklärt Natalie, „das meine ich mit Bezug auf die Menge an Menschen, die nicht in jungen Jahren sterben müssen. Weißt Du: Es sind so viele Kinderkrankheiten ausgerottet worden. Vor hundert Jahren hattest Du eine 50 prozentige Chance zu sterben, jedes Mal, wenn Du schwanger wurdest. In diesem Sinne leben wir in einer goldenen Ära. Vor 150 Jahren hatten Frauen in den meisten Gebieten der Welt absolut keinerlei Rechte. Wir haben heutzutage Maschinen, die so viel von dem erledigen, was früher Knochenarbeit gewesen war – was großartig ist. Aber auf der anderen Seite sind so viele Menschen durch Maschinen ersetzt worden, dass wir uns zornigen Mobs von Menschen gegenüber sehen, die nicht mehr gebraucht wurden und sich irrelevant fühlen. Zur gleichen Zeit haben wir aber auch Regierungen, die dafür Sorge tragen, dass auf der Straße niemand mehr verhungern muss. Wenn man die Geschichte studiert, dann stellt man fest, dass wir heute so viel mehr Freiheiten und so viel mehr Überfluss haben als früher. Nahrung Medizin, Hilfsorganisationen – solche Sachen existierten vor ein paar hundert Jahren einfach nicht. Wenn Du früher alt und krank warst, dann bist Du eben gestorben wenn Du keine Familie hattest, die sich um Dich kümmerte. Wenn Du eine Frau warst, dann konntest Du Dich nicht scheiden lassen und Deinem brutalen Mann entfliehen. Du hattest keinerlei Kontrolle über Deine Finanzen, Dein Kind, Dein Heim. Und vor 200 Jahren hättest Du Dir auch nicht aussuchen können, wen Du heiratest – dein Partner wäre von Deinen Eltern für Dich ausgesucht oder von den Umständen bestimmt worden. Und wir haben heute in den meisten Teilen der Welt keine öffentlichen Hinrichtungen mehr. Ich sehe aber nicht, dass wir lange genug existieren werden um die ganzen Entwicklungen und Fortschritte genießen zu können, die wir auf so viele Weisen erreicht haben. Einfach weil wir heute auf Systeme angewiesen sind, die unsere Zerstörung verursachen.“

Mit welchem musikalischen Anspruch ist Natalie an die neue Scheibe herangegangen?

„Ich wusste, dass ich wollte, dass es eine sehr reichhaltige Scheibe werden sollte“, erinnert sich Natalie, „mit vielen Ebenen und Texturen. Ich habe 2008 mein erstes Konzert mit einem Orchester gespielt – und seither 70 weitere. Ich fühle mich inzwischen sehr wohl damit, mit (Orchester-)Komponisten und symphonischen Instrumentalisten zusammenzuarbeiten. Was ich in meinem Kopf hörte, waren Holz- und Blechbläser und Streicher. Das sollte also eine große, teure Angelegenheit werden. Das musste aber auch so sein, denn die Songs hatten etwas Episches an sich und das brauchte dann Arrangements, die der Kraft der Songs gerecht werden konnten. Es hätte natürlich eine kleinere Scheibe werden können – aber das war nicht, was ich wollte.“ Dazu bediente sich Natalie – außer ihrer aus Erik Della Penna, Carmen Schaaf, Allison Miller und Mike Rivard bestehenden Tourband - der Mitarbeit unterschiedlichster Künstler: Die Professorin und Chorleiterin Abena Konsoon-Davis, mit der Natalie die beiden Duette „Big Girls“ und „Come On Apgrodite“ singt und deren Ehemann, der Jazz-Posaunist Steve Davis, der bemerkenswert druckvolle Bläser-Arrangements für einige Tracks spielte, der syrische Klarinettist Kinan Azmeh, die Geigerin Megan Gould und ihr Streichquartett, Kevin Crawford und Cillian Vallety von der keltischen Folkband Lúnasa und indirekt Ian Lynch von der Band Lankum, deren Moritat „Hunting The Wren“ Natalie für das Album coverte. Unter dem Strich ist auf diese Weise Natalie Merchant ambitioniertestes Album entstanden, das sogar noch prachtvoller und opulenter ausgefallen ist als „Natalie Merchant“ von 2014.

Words: Ullrich Maurer
Photo: Shervin Lainez

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