DOTA

14.02.2024 Interview

Mehr Freude und mehr Liebe, was anderes hilft nicht

Die Berliner Musikerin Dota Kehr spricht über ihre Liebe zu den Gedichten von Mascha Kaléko (1907-1975) und sieht Parallelen zwischen den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts und einer erstarkenden Rechten heute

Dota, ich habe die CD XO von Elliott Smith dabei, weil ich gelesen habe, dass sie in deinem Werdegang eine Rolle gespielt hat.

Oh, Elliott Smith! Ja, das haben wir bei der Straßenmusik auch mal gesungen, natürlich in einer ganz anderen Version, weil es ist ja so ein ganz leises Stück, und man kann bei der Straßenmusik nur laut singen. Ja, ja, doch, das hat mich auf jeden Fall so auch in meinen Anfangszeiten als Gitarristin sehr begleitet. Elliott Smith und Chico Cesar, das habe ich mir auch als erste Stücke rausgehört. Das ist ein brasilianischer Musiker, den ich sehr schätze.

Und hast du damals das Medizinstudium noch parallel gemacht zur Straßenmusik?

Ja, ja. Lange. Also ich habe erst angefangen, Gitarre zu spielen. Da habe ich schon Medizin studiert und wusste aber auch nicht so recht, ob ich das machen will und war auch sehr unglücklich und unsicher, und je mehr ich dann angefangen habe, Musik zu machen, umso mehr hat mir das Studium auch Spaß gemacht, weil ich natürlich nicht mehr so diesen absolut notwendigen Zwang gesehen habe, dass ich da drin arbeiten muss. Man lernt so viele unzufriedene Ärzte kennen, leider, im Laufe des Studiums, so viele, die einem sagen, wenn ich nochmal entscheiden könnte, würde ich was anderes machen. Und das gibt mir schon sehr zu denken. Obwohl es so ein schöner Beruf ist an sich. Naja, und dann ging das so eine ganze Weile parallel, dann habe ich schon vom Musikmachen gelebt und ein bisschen langsam studiert, weil man das ja auch nicht so planen kann. Also rückblickend tut es mir leid, dass ich diesen Studienplatz nicht jemand anders überlassen habe. Aber zu meiner Entschuldigung möchte ich sagen, ich habe erst kurz nach dem Staatsexamen gemerkt, dass ich wirklich davon leben kann.

Aber für so eine Entscheidung muss man sich ja nicht entschuldigen. - Ich habe deine Musik in meinen Reviews zu deinen Konzerten als tanzbaren, verspielt pluckernden Folk-Elektropop beschrieben. Das habe ich aber in dem Text, in dem ich das auch von Elliott Smith weiß, dass du Fan bist, gelesen, dass du dich schwer tust mit solchen Beschreibungen.

Ja, also selbst seine eigenen Pressetexte zu verfassen, gehört für mich zu dem Schlimmsten, was man so in den Anfängen seiner Karriere zu tun hat. Und am liebsten möchte ich das immer anderen Leuten überlassen, das irgendwie einzuordnen, genremäßig. Ich denke überhaupt nicht über Genre nach, sondern schon beim Schreiben habe ich immer nur ein Gefühl, in der allerersten Idee, so in dem kleinsten Funken, meistens sind es nur ein paar Worte. Auch eine Melodie steckt eigentlich nie drin. Und dann muss ich nur sehr vorsichtig das so anpacken und dem nachspüren, was es sein will. Aber dann auch im nächsten Schritt, wenn ich das mit der Band arrangiere, dann mache ich mir gar nicht über Genres Gedanken, sondern nur darüber, was ist für dieses Lied jetzt am besten? Was bringt es am besten zur Geltung und zum Glänzen und ja, dann kommt irgendwas dabei raus, was auf dem Album ist.

Ich glaube, alle Musiker hassen diese Zuschreibungen, und ich bin auch gar kein exzessiver Einordner von diesem Genre-Kram. Aber sagen wir mal, es gibt ja schon Tendenzen.

Ich meine, ist ja auch logisch, dass Leute wissen wollen, wie klingt was und dann liest man was drüber und dann muss es irgendwie eingeordnet werden.

Du hast schon ein bisschen angesetzt, welche Rolle die Band dabei spielt bei diesem musikalischen Prozess.

Ja, super wichtig. Ganz am Anfang war es für mich auch so ein ganz wichtiger Motor oder Antrieb. Der Wunsch, mit der Band gemeinsam zu spielen und neue Stücke zu schreiben, damit wir wieder was arrangieren können. Und ich habe ja auch eine sehr konstante Band. Der Gitarrist und der Schlagzeuger sind jetzt tatsächlich seit 2003 mit mir unterwegs. Die anderen Positionen der Band haben ein bisschen gewechselt. Seit 2020 ist es jetzt konstant zu fünft. Aber ja, also der Geschmack der Band und die stilistischen... Einbringungen und so sind ganz wichtig. Und außerdem hätte ich das nie so lange gemacht, wenn das nicht so viel Spaß machen würde, mit dieser Band unterwegs zu sein. Ich kenne auch viele Kolleginnen und Kollegen, die sagen, sie finden es anstrengend, auf Tour zu sein. Ich kann es ein bisschen verstehen, was daran auch mal anstrengend ist. Aber ich bin echt gerne auf Tour, weil weil es mir mit uns zusammen einfach Spaß macht.

Ich habe Israel Nash vor ein paar Monaten interviewt, und der sagte so was Ähnliches: Bei der Band, mit der er tourt, geht es mehr darum, dass er sich gut mit ihnen versteht. Und irgendwelches Talent kommt in zweiter Linie. Das könne man sich zur Not aneignen. Also im Zweifel geht es viel mehr darum, dass man sich versteht über die ganze Zeit.

Also ich mag auch den Stil meiner Musiker sehr, sonst hätte das nicht sehr gut zusammengepasst. Wir haben uns sicherlich auch gegenseitig da sehr geprägt und geformt über die Jahre. Also Talent ist ja das eine, aber das, was besonders wichtig ist, ist ja Geschmack und so eine Stilsicherheit. Es geht ja auch viel darum, wenn man arrangiert: welchen Sound gibt man so einem Lied? Für eine Platte und dann aber auch live. Also dieser Prozess des Arrangierens ist wahnsinnig wichtig. Und oft geht es mir so, dass ich irgendeine Idee mitbringe und selber dann nur noch so halb dran glaube oder nicht weiß, ob es die ist oder man es einfach wieder wegtut. Und manchmal dann einer der Musiker aber die Vision entwickelt, wie das Stück dann fertig sein könnte, und dann schreibe ich es erst fertig, weil es dann gut klingt.

Das letzte Konzert, das ich gesehen habe von euch, war in Mülheim. Ich fand aber, das kann man wieder nicht kategorisieren, wie ihr da gespielt habt. Da war ein bisschen Folk, ein bisschen Pop, aber auch Jazz.

Oh ja, das hatte richtig viel Jazz.

Das fand ich toll, weil das diese 20er Jahre widerspiegelte, in denen Kaléko angefangen hat zu schreiben.

Es hat halt auch was Freies. Es gibt eben auch so freie Momente und das finde ich wahnsinnig wichtig, weil das natürlich auch die Livesituation immer besonders spannend macht. Also ich weiß, dass es mittlerweile super verbreitet ist, dass Bands auf so Backing Tracks spielen, das ist halt so Clicktrack. Und das ist für mich keine Livemusik. Also nicht wirklich so wie ich sie mag, ich kann mich nicht dran gewöhnen. Ich verstehe schon, dass es fett klingt und alles. Aber das Interessante daran live zu spielen ist ja auch, dass das Risiko besteht, dass es mal an einem Abend zu langsam oder zu schnell sein könnte oder man mal nicht zusammen ist oder so...

Jazzmomente, ohne wirklich Jazz zu sein. Was ich auch toll fand, war, dass die beiden Bläserinnen Antonia Hausmann und Wencke Wollny (aka Karl Die Große) die Bläser letztlich dann doch ein bisschen anders, als man das so erwartet, gespielt haben. Also für mich klang das ganz oft wie dreckige E-Gitarren.

Ja, ja, da haben wir beim Arrangieren fürs Liveprogramm überlegt: auf dem Album sind ja auch hier und da Streicher, und dann haben wir das durch Bläser ersetzt oder mussten manchmal auch ein bisschen schummeln, weil wir im Tourbus nur Platz für zwei Bläser hatten, und ich finde, drei wäre optimaler. Aber dann würden wir logistisch Probleme kriegen und deswegen spielen hier und da die zwei Bläser und der Keyboarder spielt die dritte Stimme. Es fällt nicht besonders auf. Ich glaube, es merkt eigentlich keiner. Aber es macht natürlich, dass der Bläsersatz eigentlich vollständig klingt.

Heute in Herne spielst du mit Maria Schneider, Bühnenname Mascha Juno. Das ist für mich jetzt persönlich ganz toll, dass das Programm noch mal sozusagen anders abläuft. Heute zum allerersten Mal, und ihr macht das nur zweimal - oder später nochmal?

Ich hoffe, dass wir das noch mal irgendwann spielen, denn wir haben jetzt ganz viel geprobt. Und es ist wirklich schön geworden, das Programm und ich hoffe, dass sich noch mal die Gelegenheit ergibt. Maria ist halt sehr terminlich sehr eingespannt.

Dann lasse ich mich lieber überraschen und frag' dich nach der anderen Mascha, Mascha Kaléko. Ich habe mich immer sehr interessiert für die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts und die Weimarer Republik - Tucholsky ist mein Hausguru. Aber die Kaléko hatte ich eigentlich nicht auf dem Schirm. Erst durch deinen Auftritt 2020 in Bochum in den Kammerspielen, mit Moritz Krämer in der Reihe Songs and Stories, habe ich das erste Mal von dem Plan gehört: Du machst eine Kaléko-Platte, hast damals zwei Lieder daraus vorab gespielt...

(Hinweis: Sie ist u.a. Bandmitglied bei Agnes Obel.)

... Und dann haben wir uns alle nicht mehr gesehen. Das war das letzte Konzert vor der Pandemie. Ja, aber dann gab es ja die Platte. Ich kannte Mascha Kaléko vorher ehrlich gesagt nicht, muss ich zugeben, ich kannte gar nichts von ihr. Und dann habe ich eben von einem Konzertgänger diesen Gedichtband geschenkt bekommen, und das hat alles so losgetreten. Hätte ich auch nicht geahnt.

Hat der Konzertgänger sich mittlerweile geoutet?

Er hat sich nie wieder gemeldet. Ich hatte gehofft, er meldet sich mal, ich habe es in vielen Interviews erwähnt und ich wünschte, ich wüsste, in welcher Stadt das war, vielleicht in Göttingen, aber wer weiß. Einerseits schade, das kribbelt irgendwie, aber ich finde es auch irgendwie cool. Ich habe damit eine Erfolgsstory, und ich weiß noch, dass er dazu gesagt hat: "Vielleicht kannst du was damit anfangen".

Der hat auf jeden Fall Empathie. Und was fasziniert dich an ihren Texten? Und warum funktioniert das auch so gut?

Also das funktioniert ja sehr gut über jetzt zwei CDs. Eigentlich sind es schon drei Platten, überall sind noch Texte und noch ein Bonus, und insgesamt sind es 45 Gedichtvertonungen. Warum funktioniert das so gut? Ja, also auf so einer rein formalen Ebene kann ich sagen: Ihre Texte sind immer so exakt, formal auch so streng, so genau in ihren Betonungen, in ihrem Rhythmus, sauber gereimt und unglaublich gut verdichtet. Einfach kein Wort zu viel. Also ganz knapp. Und das lässt sich halt wirklich gut vertonen. Es macht es einem auch leicht, weil es formal so so streng ist. Es gibt ein Gedicht von ihr, was ich vertont habe, was das ausnahmsweise nicht ist - für sie eine große Ausnahme. Die Zeilen haben ganz unterschiedliche Längen. Es gibt keine Reime. Aber ich behaupte, dass einem das gar nicht groß auffällt, wenn man die Vertonung hört.

Das hat dann trotzdem gut geklappt. Und warum Kaléko? Auf der inhaltlichen Seite gehen mir ihre Texte so so gut über die Lippen, weil oft so eine Haltung, so eine Attitüde drin ist, die ich so gut nachspüren kann. Also ich frage mich, was ich sage, ohne jetzt anmaßend zu sein, weil ich sie natürlich nie gekannt habe und gar nicht einschätzen kann, ob die Melodien so ihrer Haltung zu den Texten entsprechen. Aber sie ist manchmal so, so - was soll ich sagen, so spöttisch und so analytisch, und gerade auch in romantischen Dingen? Das mag ich wirklich gut. Natürlich ist da der historische Kontext und andere Sachen, in die man sich jetzt nur theoretisch 'reindenken kann. Aber ihre Gedichte transportieren halt auch so viel. Ja, und ich mag, dass sie manchmal fast so flapsig ist, eben spöttisch, aber auch immer so nahbar und verletzlich.

Haltung habe ich mir auf meinem Zettel auch in Großbuchstaben aufgeschrieben. Wenn ich jetzt auf der Straße viele Leute frage, wer kennt Mascha Kaléko, dann ist es erst mal wahrscheinlich eine Minderheit. Aber trotzdem, selbst chartsmäßig ist das ja durchaus erfolgreich.

Also ich bin sehr glücklich, dass mir manchmal Leute sagen, dass sie Mascha Kaléko nur durch meine Lieder kennengelernt haben. Dann freue ich mich natürlich. Also ich denke: hey, das hat sie total verdient. Und meine Musik ist ja auch als Hommage an die Dichterin gedacht.

Trotz der großen Demos gegen rechts und Fridays for Future etc. sehe ich gesellschaftlich eher eine Regression bei uns, einen Rechtsruck. Allein wenn man an Haltungen zu Migration und auch Gesetzgebung zu Migration denkt. Der Erfolg des Kaléko-Programms: Könnte es sein, dass Kalékos melancholischer Ton, der in ihrer unbeugsamen Haltung mitschwingt, diese Ahnung, da könnte gesellschaftlich etwas kippen, trifft?

Nun, der Ton hat sich natürlich auch in vielem geändert. Ihre ersten Gedichte in Berlin, da ist sehr viel Romantisches dabei, sehr alltagsnah. Und die melancholischeren, obwohl sie früh auch schon ein paar melancholische Texte hatte, sind in ihrem Spätwerk, was teilweise erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurde. Ja, da gibt es schon noch ein paar Texte, die ziemlich bitter klingen. Aber ich meine, man kann nicht umhin, diese Parallele zu ziehen zwischen den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts und jetzt und dieser erstarkenden Rechten. Und sie war in den 20er Jahren wahnsinnig liberal, auch in der Haltung. Sie war mit einem Mann verheiratet und hat in der Zeit mit einem anderen Mann eine Affäre gehabt und ihr Mann wusste davon. Sie war eine sehr emanzipierte Frau und hat sehr viel gemacht, was sie wollte. Ja, und jetzt gerade denkt man auch, es wäre so in den 50er Jahren wieder kaum denkbar gewesen.

Das Problem der erstarkenden Rechten. Diese Krise der Demokratie ist vor allem eine Krise der Medien: also mit besserer Regulierung von Social Media würde man, glaube ich, da einigen Sachen ziemlich schnell beikommen. Das ist möglich. Und es ist so frustrierend, dass kein gesetzgeberischer Wille dafür da ist. Andere Krisen unserer Zeit, Klimawandel, Artensterben, Kriege, da ist es so schwierig, dem beizukommen. Aber die Regulierung von Social Media und die Eindämmung der Gefahr, die diese Desinformation, diese Verstärkung der extremen Hasspositionen bedeutet: Das könnte man lösen. Man könnte Social Media viel mehr dafür verantwortlich machen. Und dass das Vertrauen in die öffentlich-rechtlichen und Leitmedien sowieso zurückgeht und gesunken ist: Das ist die große Krise, weil wir am Ende, wenn wir uns nicht darauf einigen können, wer die Wahl gewonnen hat, dann ist die Demokratie erledigt. Und das sieht man ja gerade schon in den USA, wie nah man da dran ist.

Ich habe mir die Texte noch mal angeguckt heute und bin bei dem Gedicht Zeitgemäße Ansprache hängengeblieben.

Das spielen wir heute zum ersten Mal live.

Das fand ich unglaublich gut, dieser Gegensatz von der kleinen alltäglichen Welt und den großen Problemen, die einen teilweise überwältigen. Es hat mich ein bisschen erinnert an eine Passage aus Rosa Luxemburgs Briefen aus dem Gefängnis, da ist etwas ganz Ähnliches: Luise Kautsky schreibt ihr ins Gefängnis, alles ganz schlimm und Krieg und Ausbeutung und Intrigen. Und Luxemburg sagt: Da kannst du doch nicht drüber aufregen, das müssen wir analysieren. Aber aufregen kannst du dich, wenn die Katze stirbt. Wenn deine Blumen eingehen. Diese beiden Ebenen sind auch in der Zeitgemäße[n] Ansprache drin.

Also bei anderen Texten war es so, da habe ich einfach 'rumprobiert, und was sich gut singen ließ und wo mich meine musikalische Idee überzeugt hat, habe ich sie 'reingenommen. Und dann gab es nur zwei Texte, wo ich wirklich sehr vorsätzlich 'rangegangen bin und gesagt habe: Ich will diesen Text dabeihaben. Und jetzt probiere ich so lange 'rum, bis ich eine Vertonung habe. Das war die Zeitgemäße Ansprache und Der Fremde, weil ich die beiden so stark finde und auch so zeitgemäß. Und da habe ich sehr lange 'rumprobiert, bis ich dann dabei angekommen bin.

Wie wichtig angesichts dieser regressiven Tendenzen und des Social Media-Irrsinns sind dir dann gerade jetzt diese zwei Lieder oder, ich nenne mal zwei deiner eigenen: Grenzen, und auch Zwei im Bus vom Album Die Freiheit?

Ja klar, superwichtig. Also ich habe gerade auch auf der Demo gespielt. Es war so ermutigend in Berlin. So ermutigend und so schön zu sehen, dass so viele Leute auf die Straße gehen, um das zu artikulieren. Ja, und dann habe ich irgendwas bei Social Media gepostet dazu und dann hat mir jemand geantwortet: Ja, das ist doch selber faschistisch, eine Demo, ein Riesenmob von Leuten, die keine andere Meinung zulassen. Ich bin jetzt nicht so aktiv auf Social Media, ich reagiere nicht auf Kommentare. Aber die Meinung, dass Menschen verschieden viel wert sind aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion, was auch immer. Das ist keine Meinung! Nein, die wird nicht toleriert! Absolut nicht! Aber ansonsten sind ganz viele Meinungen toleriert. Wenn du z.B. findest, dass du so leben möchtest, mit einem Geschlechterrollenmodell von vor 100 Jahren, und du findest irgendwie jemand, der mit dir so leben möchte: wunderbar! Mach das! Es scheint ja offenbar ganz viel das Gefühl vorzuherrschen, dass so eine Bevormundung durch eine urbane akademische Elite stattfindet. Und deswegen ist auch diese ganze Debatte über das Gendern so kontraproduktiv. Darum geht es nicht, darüber können wir jetzt mal kurz reden - und dann müssen wir wieder über soziale Ungleichheit reden und dass die Mieten zu hoch sind und dass die Konzerne zu viel Macht haben und dass das Kapital zu sehr konzentriert ist. Ganz viele Sachen, die alle betreffen. Und ich meine: auch die ganzen Leute, die AfD wählen. Die meisten von ihnen wählen absolut gegen ihre eigentlichen ökonomischen Interessen. Und man muss diese Frage stellen, warum die keine linken Parteien wählen. Und ja, ich denke, dieses Gefühl von Bevormundung und was aufoktroyiert zu kriegen von von so einer Elite, das muss man irgendwie auch ernst nehmen.

Und natürlich ist die Alternative nicht Fremdenhass und Nazis wählen und Rassismus und so, aber ich weiß nicht, ich finde so einen Danger Dan - mäßigen Ansatz "Mit Nazis redet man nicht", damit kann man sich toll hinstellen und sich selber auf die Schulter klopfen dafür, dass man auf der Seite der Guten ist. Aber das wird niemanden davon überzeugen, nicht die AfD zu wählen. Natürlich mit Nazis reden! Nicht in Talkshows, nicht, wo man ihnen eine Bühne bietet! Aber wenn es dein Nachbar ist oder dein Onkel ist: unbedingt! Ganz viel mit ihnen reden! Was sollen wir denn machen? Wir sind Zeugen davon, dass eine offene und solidarische Gesellschaft lebenswerter und besser ist. Und mehr Freude und mehr Liebe, was anderes hilft nicht. Wie gesagt, auf der Demo zu sein: Ich fand es total ermutigend und ich weiß auch, dass es möglicherweise niemanden überzeugt, seine politische Haltung zu ändern. Und es ist auch total klar, dass es in der Geschichte der Menschheit noch nie passiert ist, dass ich zu jemandem hingegangen bin und gesagt habe: Du bist ein Idiot, alles, was du denkst, ist falsch. Und dann hat er gesagt: Oh, du hast recht, ich ändere meine Meinung. So passiert es halt nicht. Ist auch völlig klar. Aber man muss die Leute unbedingt zurückholen in einen Medienkosmos, wo man sich auf gemeinsame Wahrheiten und Fakten einigen kann. Und wie gesagt, ich denke, die Krise der Demokratie ist eine Krise der Medien und eben eine Krise von Social Media.

Und es muss dagegen politisch agiert werden. Es gibt gar keine andere Möglichkeit und sonst wird es noch viel mehr Schaden anrichten, noch weit jenseits dessen, was wir uns jetzt vorstellen. Wenn du AI-Bots hast, die Stimmung machen, dann wird es ganz schnell so, dass wir glauben, dass diese Social Media - Welt unsere Realität widerspiegelt. Und das stimmt aber nicht.

Ich habe in der Erwachsenenbildung gearbeitet, Weiterbildungskolleg, Zweiter Bildungsweg, junge Erwachsene in ihren Zwanzigern, und, naja, die beziehen ihre Nachrichten aus den Social Media über die ganzen Verstärkungseffekte. Das muss man erst mal aufbrechen.

Das ist das, was erstmal die Krise verursacht. Ich meine, die AfD hat bei TikTok eine Reichweite, die ist ungefähr das Fünffache der SPD. Ich weiß jetzt die Zahlen nicht mehr genau, aber auf jeden Fall ist es schockierend viel. Darf man nicht so stehen lassen. Background: Dota Kehr (geb. 1980) ist Berlinerin und examinierte Medizinerin. Seit 20 Jahren macht sie unter dem Bandnamen DOTA Musik, seit 2013 in der Besetzung mit Jan Rohrbach (git), Janis Görlich (dr), Jonas Hauer (keys, seit 2018: Patrick Reising) und (seit 2020) Alex Binder (bass). Auf einem ihrer Konzerte steckt ihr ein Fan ein Büchlein zu, Autorin: Mascha Kaléko (1907-1975). Dota ist begeistert. 2 Kaléko-Alben hat sie mittlerweile herausgebracht (2020 und 2023), neben mittlerweile 10 Studio- und 5 Livealben.

Words: Frank Schwarzberg
Photo: Annika Weinthal