REEPERBAHN FESTIVAL

16.09. - 20.09.2020 / Hamburg

Jahrelang galt das Hamburger Reeperbahn-Festival als feste Größe im Terminkalender, wenn es darum ging, spannende, internationale Acts Live erleben oder gar neu entdecken zu können. In Pandemie-Zeiten ist das natürlich alles nicht so einfach. Zum Glück fanden die Macher des Reeperbahn-Festivals – zusammen mit der Stadt, dem Bund, den Sponsoren und den Veranstaltern aber eine Möglichkeit, das Festival in einer – zwar stark reduzierten Ausführung, aber unter Pandemie-gerechten Bedingungen - trotz der Corona-Krise durchzuführen. Angesichts dessen, dass fast alle anderen Festivals in diesem Jahr ganz abgesagt worden waren, kann das gar nicht hoch genug bewertet werden.

Natürlich musste auf die Teilnahme fast aller internationalen Acts verzichtet werden, denn aufgrund der Reisebeschränkungen war es ja schlicht nicht möglich, Gäste aus den USA, Australien, Kanada oder England einzufliegen. Sogar für den europäischen Bereich gab es da nur wenige Möglichkeiten: Noch während des Festivals gab es neue Reisewarnungen wodurch einige Shows von Acts aus Österreich, den Niederlanden und der Schweiz zusätzlich abgesagt werden mussten. Immerhin gelang es, das Festival auf Umwegen doch mit einigen internationalen Acts anzureichern. So kam es nämlich zu Pass, dass man sich als Länderpartner dieses Mal Dänemark ausgesucht hatte, denn einige Dänische Acts fanden tatsächlich den Weg zur Reeperbahn. Den Länderpartner des nächsten Jahres – Korea – stellte man in Form eines Video-Showcases vor, der online und in Endlosschleife auf dem Festivalgelände per Leinwand präsentiert wurde. Und dann gibt es ja in Berlin eine ganze Kolonie internationaler Künstler, auf die dann behelfsmäßig zurückgegriffen wurde, so dass am Ende ein – unter den gegeben Umständen – attraktives Programm zusammengestellt werden konnte.

Stilistisch machte sich das Ganze dadurch bemerkbar, dass das ansonsten reichhaltige Angebot in Sachen Americana, Singer-Songwriter und klassischem Rock deutlich eingeschränkt war. Dennoch gab es einige Highlights zu vermelden, die – zumindest in performerischer Hinsicht – voll überzeugten.

Bevor es mit dem Spielbetrieb so richtig losging, gab es bei der Eröffnungs-Veranstaltung „Doors Open“ zunächst ein Schaulaufen diverser geladener Gäste, RBF-Partner, Musiker, Talkgäste, Präsentatoren, Politikern und nicht zuletzt von Markus Kavka, Melanie C und Frank Dellé von Seeed – den drei Juroren des Anchor-Festival-Wettbewerbs, die auch tatsächlich körperlich anwesend waren. Witzig dabei: Ohne Maske mussten auch die wertvollen Schaugäste mit Abstand vor der Fotowand Platz nehmen. Bei den Eröffnungsreden zeigten dann Kultursenator Carsten Brosda und der für seinen krankheitsbedingten Chef Olaf Scholz eingesprungene Staatssekretär Wolfgang Schulz ein Herz für die Musik, zitierten Jason Isbell und die Savages und sagten die Unterstützung der Politik zu.

Musikalisch los ging es dann mit der Show der Lokalmatadorin Lùisa, die die Chance nutzte, zur Eröffnung des Spielbetriebes auf einer unter dem Namen „Spielbude XL“ neu eingerichteten Open-Air Bühne am Kopf des Spielbudenplatzes, um den herum viele der Hamburger Clubs verteilt sind, mit ihrer Band neues Material zu präsentieren, das sich erst auf ihrem kommenden, im nächsten Jahr wiederfinden wird. Dabei gefiel besonders der Umstand, dass Lùisa's typische songwriterische Melancholie in diesem Setting an der frischen Luft einer gewissen verspielten Leichtigkeit und einer ordentlichen Prise Pop Appeals gewichen war.

Eine echte Entdeckung stellte die Postpunk-Band Paar dar. Dabei handelt es sich allerdings um ein aus Sängerin Ly Nguyen und ihre beiden Mannen Rico Sperl und Matthias Zimmermann bestehendes Trio ohne Drummer. Tatsächlich aber gehört das mitreißende, von pulsierenden Bassläufen, Velvet-Underground-mäßigen Stakkatogitarren und vorprogrammierten Beats getriebene Set im mit Corona-bedingt maximal 30 Personen spärlich besetzten Molotow dennoch zu den druckvollsten und energischsten Darbietungen auf dem gesamten Festival. Denn „Unerbittlich“ wird bei den Songs des (rein englischsprachigen) Debüt-Albums „Die Notwendigkeit der Notwendigkeit“ bei Paar ganz groß geschrieben.

Die für Dänemark ins Rennen gehende Halb-Britin Drew Sycamore, die ihren Künstlernamen wählte, weil der nun mal „sick“ klänge, gehört zu jener Spezies von Künstlern, die keinen Hehl daraus machen, dass ihr Herz musikalisch an der Pop-Musik hängt, dass aber auf der anderen Seite, ihre charmanten, muttersprachlichen Texte für sie das Wichtigste wären. Ergo gab es – gleich drei Mal an diesem Tag - ordentliche Pop-Songs im Singer-Songwriter-Modus. Das hat man ja auch nicht so oft.

Die Wahlberlinerin Sofia Portanet startete ihre Karriere unter anderem auf dem letztjährigen Reeperbahn-Festival und präsentierte jetzt, nachdem ihre Debüt-LP „Freier Geist“ erschienen ist, mit ihrer Band und ihrer quietschenden Lackhose musikalisch einen soliden Flashback in Sachen Neuer Deutscher Welle präsentierte und dabei ihrem multinationalen Background mit Texten auf Deutsch, Englisch und Französisch freie Bahn ließ.

Der Berliner Jungpoet Betterov hielt mit seinen im stillen Kämmerlein entstandenen Selbstfindungs-Songs bemerkenswerterweise weniger die Deutschpop- als vielmehr die Rockmusik-Fahne hoch. Eine Musikrichtung, die in diesem Jahr deutlich unterrepräsentiert war. Immerhin gab es hoffnungsvolle Ausnahmen: Da war zum Beispiel das Projekt Jettes, das Laura Lee von Gurr zunächst als Duo Projekt mit ihrem Kollegen Melody Connor gegründet hat, der inzwischen aber ausgestiegen ist. Was bleibt ist eine coole, neue – dieses Mal englischsprachige - Power-Pop-Combo mit (so „Spiegel“) „Null Innovation aber jeder Menge Energie“ und einer doppelt coolen Frontfrau. Ebenfalls dem Rocksektor zurechnen ließe sich das multinational besetzte Berliner Trio Shybits, das mit einem gutgelaunten Mix aus Trash-Rock, Schrammelpop und Garagen-Pop den Indie Geist beflügelte und die Fritz-Bühne rockte.

Eine schöne Überraschung jenseits fester Kategorien stellte die Anchor-Show des norwegischen Ensembles Tuvaband dar. Zusammen mit ihrer Berliner Band präsentierte Frontfrau Tuva Hellum ein beeindruckendes, voll orchestriertes und in Ansätzen sogar rockendes Set, das sich angenehm von den eher zurückhaltenden, atmosphärischen Solo- und Ambient-Aktivitäten der Anfangstage der Tuva-Band unterschied.

Ein paar Singer-Songwriter-Acts gab es auch in diesem Jahr zu bewundern – wenngleich sich diese überwiegend eher im Mainstream-Sektor bewegten. Da gab es zum Beispiel den zum Glück in Hamburg gestrandeten Briten Tom Gregory, der mit seiner Show auf der neu geschaffenen, riesigen Open-Air-Bühne auf dem Heiligengeist-Feld eine ordentlich durchorchestrierte Show spielte, in der er an seinem Nimbus als kommender Superstar arbeitete. Weniger großspurig agierten die jungen Dänen Nicklas Sahl und Calby, die ihren romantischen Damenfänger-Pop im klassischen Songwriter-Setting bzw. im letzteren Fall mit souliger Grundtendenz präsentierte.

Der Hamburger Jung Niels Frevert schließlich führte die Songs seines aktuellen Albums „Putzlicht“ - ebenfalls auf der Festival-Village-Stage mit einer gewissen nonchalanten Grandezza auf. Das war dann allerdings eher cool und lässig als großspurig. Ebenfalls in die Songwriting-Ecke passte die Berliner Künstlerin Tara Nome Doyle, die im Imperial-Theater zusammen mit ihrem Gitarristen ein anrührendes Set mit teilweise neuen Art-Pop-Songs präsentierte, in dem sie charmant ihre irisch-norwegischen ins Spiel brachte. Die vielleicht interessanteste Entdeckung des Festivals in Sachen Songwriting stellte vielleicht die Niederländerin Eefje de Visser. Weniger, weil sie die harmonisch anspruchsvollen und melodisch wunderschön ausformulierten Songs wesentlich organischer präsentierte als bei ihren Studioproduktionen, sondern weil sie – als Kopf eines weiblichen Gesangstrios – komplett auf holländisch sang. Ein wenig im Zwischenbereich zwischen Pop und Songwriting bewegte sich die Berliner Musikerin Novaa. Denn nachdem sie sich zuvor eher am E-Pop versucht hatte, bewegt sie sich heutzutage eher im organischen Balladenmodus durch ihre ausnahmslos selbst geschriebenen Songs. Und auch die ansonsten gerne schon mal experimenteller ausgerichtete Musikerin Dillon entschied sich dazu, mit zwei berührenden und emotional aufgeladenen Solo-Klavier-Konzerten eher die songwriterische Seite ihres Tuns auszuloten.

Freilich überwog insgesamt der Anteil derjenigen Acts, die sie dem Genre Pop zurechnen ließen. Was aber gar nicht schlimm war, denn auch hier gab es unterhaltsame Acts zu entdecken. Das Berliner Duo Children etwa überzeugte gleich mit drei Shows auf dem Festival und präsentierte ihren organischen, handgemachten, gemischtsprachigen Pop mit Band, Querflöte und genau der richtigen Einstellung: Außer zu gefallen soll nämlich die Musik von Children gar nichts leisten – und das ist genau der richtige Ansatz. Das Chemnitzer Trio Blond bot auf der Festival Village Stage die vielleicht unterhaltsamste Show des ganzen Festivals – unter anderen, weil sie das herrschende Tanzverbot dadurch zu umgehen suchten, dass sie die diesbezüglichen Aktivitäten zu „Aerobic“ und „Pantomine“ umdeklarierten. Die Französische Solo-Künstlerin Suzane begeisterte bei ihrem Anchor-Auftritt im Nochtspeicher durch die Reduktion aufs Notwendige. Denn sie präsentierte ihren Chanson-Club-Dance-Pop ganz alleine – aber enorm mitreißend und körperbetont. Ganz anders ging die ebenfalls aus Berlin angereiste Amerikanerin JJ Weihl (die ansonsten in der Band „Fenster“ tätig ist) mit ihrem Solo-Projekt Discovery Zone vor. Hier ging es nämlich um eine Synthese aus aufwendig selbst produzierten Video-Projektionen und der synchronen Performance JJ's, bei der sie ein Theremin, eine Digitalgitarre und diverse elektronische Effektgeräte einsetzte – und trotzdem das Publikum zum Mitklatschen bewegen konnte. Auch die Anchor-Gewinner – das aus Inèz Schaefer und Demian Kappenstein bestehende Berliner Duo Ätna ist dem Pop-Sektor zuzurechnen.

Wieder ein Mal und trotz Allem präsentierte sich das Reeperbahn-Festival als Spielwiese für interessante Neuentdeckungen, Begegnungen und coole Live-Musik. Das allerdings um den Preis eines stark eingeschränkten Angebotes und dem Umstand, dass der ganze Business-Aspekt des Festivals in den virtuellen Raum verlegt werden musste. Zweifelsohne war das für die Zuschauer von Vorteil, da es so weniger Gedränge und dank der ausgezeichneten Organisation vor Ort weniger Stress gab. Richtig Geld verdienen ließ sich in diesem Format freilich nicht – so dass schon sehr zu wünschen wäre, wenn die Sache im nächsten Jahr wieder wie gewohnt durchgeführt werden könnte.

Words: Ullrich Maurer

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