TONDER FESTIVAL 2023

24.08.2023 - 27.08.2023 Tønder

Es gibt Dinge, auf die man sich verlassen kann. Wie zum Beispiel auf die Tatsache, dass jedes Jahr Weihnachten und Ostern gefeiert werden. Oder auf das TøNDER FESTIVAL, das für ROADTRACKS sowas wie Weihnachten und Ostern zusammen ist. Was wie immer an der entspannten Atmosphäre und vor allem dem überragenden Line-Up liegt, das das süddänische Töndern jedes Jahr Ende August für vier Tage zum Mekka für Folk-, Country- und Americanafans macht.

Am Donnerstagmittag ist es Margo Cilker, die im Spiegelzelt eines der ersten Konzerte der 49. Ausgabe des Festivals spielt. Anders als im Vorjahr präsentiert Cilker ihre Songs mit kleiner Besetzung, nur mit Unterstützung eines Kontrabassisten. Neben Songs wie That River oder Tehachapi vom Debütalbum Pohorylle und einem Ian Tyson Cover (Road to Las Cruces) bietet sie einen Vorgeschmack ihres demnächst erscheinenden Zweitwerks. Den Kostproben nach zu urteilen, kann hier nicht vom „schwierigen, zweiten Albums“ die Rede sein. Man darf also gespannt sein.

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Im Kontrast zur sparsam instrumentierten Show Cilkers präsentieren danach die britischen Schwestern Rachel und Becky von The Unthanks auf der großen Open Air-Bühne ihre ganz eigene Art von Folk, von der Elvis Costello mal so schön gesagt hat, dass sie von den ursprünglichen Folk-Wurzeln bis zu den obersten Ästen reiche. Beim Auftritt der elfköpfigen Formation mit Piano, Trompete, Schlagzeug, Gitarre, (Kontra-)Bass und Streichquartett wird dabei deutlich, was er damit meint, kommen in der enormen stilistischen Bandbreite die traditionelle Musik Northumberlands und des Nordosten Englands als Grundierung ebenso zum Vorschein wie Einflüsse aus Jazz und Postrock.

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Deutlich rustikaler dagegen kommt der grundsolide, von Fiddle getragene Countryrock Kelsey Waldons, die mit Hut, Stiefeln und Fransenlederjacke als waschechtes Cowgirl durchgeht. Als einer der letzten Neuzugänge im Stall von Oh Boy Records muss dem Gründer des Plattenlabels, dem schmerzlich vermissten John Prine, in Form von Paradise Tribut gezollt werden, wobei im Mittelpunkt des Auftritts Songs der Alben White Noise/White Lines und No Regular Dog stehen.

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Als Texas Troubadour mit an Townes Van Zandt und Guy Clark geschulten Songs erweist sich im Anschluss Joshua Ray Walker mit einem Querschnitt aus seinen bisher vier veröffentlichten Alben, die gerne auch mal Genregrenzen sprengen und in Richtung Soul (Sexy after Dark) oder Pop schielen. Stimme, Songqualität und handwerkliches Geschick an der Gitarre lassen beim Solo-Auftritt des 31-Jährigen noch nicht mal die Band-Arrangements der Studioaufnahmen vermissen.

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Vogue meets Folk: Das könnte das Motto von Roo Panes im Spiegelzelt sein. Der 34-jährige Brite war schon als Model im Fashion-Magazin zu sehen und schaffte mit seinen Eigenkompositionen quasi über den Laufsteg den Sprung auf die Konzertbühnen, wo er zarten Indie-Folk-Pop zum Besten gibt. Schöner Mensch, schöne Musik!

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Wem das bisherige Konzertgeschehen vielleicht zu ruhig war, liegt dann draußen, wo es mittlerweile dunkel geworden ist, vor der Hauptbühne goldrichtig: Durch den glücklicherweise nichtpuristischen Ansatz des Tönder-Festivals werden hier auch Bands wie Blackberrry Smoke eingeladen, die mit punktgenauem Southern Rock für eine angenehme Abwechslung sorgen. Das sieht wohl auch eine der Unthanks-Schwestern so, die sich unter die Menge gemischt hat und den Auftritt sichtlich genießt.

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Einer der ersten Höhepunkte des Festivals ist dann der Auftritt Sierra Ferrells in einem der kleineren Zelte. Herrlich widersprüchlich ist dabei der Kontrast zwischen Ferrells optischer Erscheinung und ihrer Musik: Mit einem Bühnen-Outfit aus Slip, BH, Cowboy-Stiefeln mit Strasssteinen und einem halbtransparenten Paillettenumhang mit Fransen, das mehr offenbart als verdeckt, sowie einem Cowboyhut, Nasenring und Glitzer im Gesicht meint man eine Country-Version von Britney Spears in Las Vegas zu sehen. Doch dann erklingen die Songs von Long Time Coming, die mit ihren Einflüssen aus Bluegrass, Jazz und Gypsy-Swing das Album zu einer der herausragendsten Platten von 2021 gemacht haben – und man ist hin und weg von der Musik und der Kompetenz, mit der Ferrell und ihre dreiköpfige Cowboy-Band durchs Programm dirigieren. Besser kann es danach nicht mehr werden. Höchste Zeit also ins Bett zu gehen, man hat ja noch drei Festival-Tage vor sich!

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Ob es am Schlafmangel oder an den etwas zu lieb, nett, harmlos und süßlich geratenen Songs sowie den etwas zu langen Ansagen liegt, dass der Auftritt von Emily Scott Robinson im großen Zelt am Freitagvormittag zunächst kein Feuerwerk der Gefühle entfacht, ist schwer zu beurteilen. Erst im zweiten Teil des Konzerts gewinnt der Auftritt an Fahrt, wenn Robinson mit dem Duo Violett Bell und Alisa Amador die Songs aus der gemeinsam aufgenommenen EP Built on Bones vorstellt, die sich thematisch um die Hexen aus Shakespeare’s Macbeth dreht. Was sich hier vielleicht noch verkopft-konzeptuell liest, erweist sich in der Aufführung als angenehmer Songreigen, der dem zunächst gebremsten Auftritt doch noch etwas Fahrt verleiht.

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Am frühen Nachmittag kommt man dann vor der Open Air-Bühne in den Genuss des zweiten Auftritts von Sierra Ferrell, die mit einem geblümten Country-Kleid deutlich weniger tief blicken lässt als am Abend zuvor. Erstaunlicherweise bekommt das Publikum jetzt aber ein nahezu komplett anderes Set zu hören, das sich hauptsächlich aus den beiden ersten in Eigenregie veröffentlichten Alben und Coversongs speist, von Country-Klassikern (Dim Lights, thick Smoke) bis zu den Beatles (Don’t let me down).

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Im großen Zelt können Shane Smith & The Saints dann die großen Erwartungen nicht ganz erfüllen. Die Formation aus Austin ist in den USA schon längst keine Unbekannte mehr und bespielt dort mittlerweile große Bühnen wie Red Rocks in Colorado. Gering dosiert mag der ständig unter Druck und Dampf stehende, brodelnde Folk-Rock mit omnipräsenter Fiddle durchaus mitreißend sein, aber auf Dauer verliert er doch deutlich an Reiz.

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Deutlich virtuoser und abwechslungsreicher gerät dann der Auftritt von Nickle Creek an gleicher Stelle. Die mit Bluegrass-Arrangements vorgetragenen Songs gehen weit über ein einfaches Drei-Akkord-Schema hinaus und bewegen sich oftmals weit jenseits klassischer Song-Strukturen. Das ist sicher nicht gerade eingängig und nicht jedermanns Sache, unbestritten sind aber die musikalischen Fähigkeiten der Watkins-Geschwister und des Mandolinen-Maestros Chris Thile an ihren Instrumenten. Ein würdiger Abschluss des zweiten Festivaltags!

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Einen ebenso würdigen Start des dritten Tags bieten The Local Honeys aus Kentucky. Der tief in der Tradition des Staates und der Appalachen verwurzelte Folk des zum Trio angewachsenen Duos kommt stilecht mit Gitarre, Banjo und Fiddle aus – und braucht auch nicht mehr, um nahe zu gehen. Neben den vom Landleben inspirierten Eigenkompositionen von Linda Jean Stokley und S. Montana Hobbs betonen Cover-Songs wie The L & N don’t stop here anymore und Way I’ve always been vom ebenfalls aus Kentucky stammenden Tom T. Hall den heimatbezogenen, ursprünglichen Ansatz der Local Honeys.

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Ursprünglich ist auch ein gutes Stichwort für É.T.É: Das frankokanadische Trio huldigt der traditionellen Folk-Musik Quebecs mit eigenen Arrangements aus Cello, Violine und Bouzouki sowie gelegentlichen Steppeinlagen. Freunde klassischer Songstrukturen kommen bei den oftmals rein instrumentalen Stücken wohl nicht immer auf ihre Kosten, aber ebenso wie bei Nickle Creek muss man den drei klassisch geschulten Musiker*innen mindestens Respekt für ihre Fähigkeiten an ihren jeweiligen Instrumenten zollen.

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Ebenso eigenwillig wie interessant klingt die Musik von Aysanabee mit ihrer Mischung aus Folk, Indie, Soul und Electronica, die ihm bereits Vergleiche mit Bon Iver, den Kings of Leon und Sam Smith bescherte. Wer sich davon selbst ein Bild machen möchte, dem sei an dieser Stelle das 2022 erschienene Debütalbum Watin ans Herz gelegt.

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Leichter zugänglich erweisen sich die Songs von Aoife O’Donovan, die in den Mittelpunkt ihres Solo-Auftritts die Songs des von Joe Henry produzierten Age of Apathy (2022) stellt, das der Künstlerin drei Grammy-Nominierungen bescherte. Besonders schön: ihre Version des Folk-Klassikers Lake of Pontchartrain.

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Die große Open Air-Hauptbühne gehört dann am Samstagabend dem Künstler mit dem größten Legendenfaktor des diesjährigen Tönderfestivals: Graham Nash hat als Mitbegründer der Hollies und als Mitglied von CSN&Y deutliche Spuren in der Popkultur hinterlassen – und erweist sich auch noch mit 81 Jahren körperlich wie stimmlich als verdammt gut in Form. Kurz vor seinem Auftritt macht der auch als Fotograf geschätzte Künstler noch Aufnahmen der im Backstage-Bereich angebrachten Dekorationen, bevor er auf der Bühne einen Querschnitt seines rund sechzigjährigen Schaffens von den Hollies (Bus Stop) über CSN&Y (Our House, Teach your children) bis zu seinem aktuellen Solowerk Now bietet. Zwischen den Stücken bietet Nash interessante Einblicke und Anekdoten, in denen Joni Mitchell, Neil Young (der für und über ihn Only Love can break your Heart geschrieben hat) und natürlich der verstorbene David Crosby vorkommen, über den er sichtlich gerührt und bewegt sagt: „I will think of Davis Crosby every single day fort the rest of my life.“ Mit dem sympathischen Auftritt des Woodstock-Veteranen geht dann auch der dritte Festival-Tag für Roadtracks zu Ende.

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Weniger legendär, aber ebenso als Veteran geht auch der 66-jährige Jim Lauderdale durch, der am letzten Festivaltag den Startschuss auf der großen Hauptbühne gibt. Der erstaunliche umtriebige, im Nudie Suit gewandete Country-Sänger und Songwriter hat seit seinem Solo-Debüt Planet of Love (1991) 33(!) weitere Werke unter eigenem Namen veröffentlicht, deren aktuelles, Game Changer von 2022, namensgebend für seine deutlich jüngere, aber handwerklich überragende Begleitband ist (das nächste Album ist natürlich auch schon in der Pipeline und wartet nur noch auf seine Veröffentlichung). Neben Bassist Jay Weaver, der bereits für Dolly Parton arbeitete und Co-Produzent Lauderdales ist, sollte an dieser Stelle noch Lillie Mae an der Fiddle erwähnt werden, die bereits mit Jack White tourte und deren drittes Soloalbum demnächst erscheint. Lauderdale ist so überzeugt von ihr, dass sie auch ans Mikro darf um zwei Nummern zu singen – und ihren Arbeitgeber auf offener Bühne ein paar Tränen verdrücken lässt. Sie sei die einzige Sängerin neben Emmylou Harris, die ihn zum Weinen bringen könne, so Lauderdale, der sich auf und abseits der Bühne als unfassbar sympathisch erweist, unaufgefordert Platten unterschreibt, die Band im Backstagebereich vorstellt und später sogar auf ein Bier einlädt. Neben den zwischenmenschlichen wollen wir aber auch die großen musikalischen Qualitäten des Auftritts mit Countryrock, Honky Tonk und einem Hauch Bluegrass nicht verschweigen. Unbestrittener Höhepunkt des Konzerts ist der Zugabenteil mit dem Titeltrack seines mit Robert Hunter (Grateful Dead) verfassten Albums Headed for the Hills.

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Roadtracks-Lesern bestens bekannt dürfte Israel Nash sein, der den nächsten Glanzpunkt auf der großen Hauptbühne bietet. Der bärtige Hippie-Hüne hat sich mit seiner sechs Alben umfassenden Diskografie als kleine Größe längst etabliert und setzt mit seiner mehr als kompetenten Begleitband rock’n’rollige Akzente auf dem Roots-Festival. We like!

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Erstaunlich robust bis rockig erweist sich auch der Auftritt der vierfachen Grammy-Preisträgerin Sarah Jarosz, die auf ihren Studioalben einen eher zurückhaltenden Ton pflegt – und die hier eindrucksvoll beweist, dass sie auch anders kann.

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Anders klingt auch Springsteens Nebraska, wenn Aoife O’Donovan das Album in ganzer Länge im großen Zelt aufführt: Mit ihrer hellen und klaren Stimme vermittelt sie nicht die über dem gesamten Album liegende Dunkelheit, verleiht den Liedern aber einen angenehm anderen Anstrich, der weniger pessimistisch und düster klingt als das Original. Unterstützung erhält sie dabei an einer Stelle von ihrer Band-Kollegin der Supergroup I’m With Her Sarah Jarosz sowie dem Folk-Trio Michael McGoldrick, John McCusker & John Doyle für Highway Patrol Man.

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Damit geht dann auch der letzte Festivaltag Tag zu Ende. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das diesjährige Tönder-Festival war wieder ein besonders schönes. Was sich so ziemlich jedes Jahr behaupten lässt. Was uns wohl dann 2024 beim 50. Jubiläum des musikalischen Oster- und Weihnachtsfests erwartet? Wir wissen es nicht. Aber wir sind uns sicher, dass es wieder ein Highlight des Konzertjahres werden wird. Aufs Tönder-Festival ist nämlich Verlass.

Ein Review von Andreas Paßmann
Photos: Volker Ebert