GAYE SU AKYOL

02.04.2023 / Moers - Bollwerk 107

Immer wieder herrlich, wenn Folk und Rock verschmelzen: der Folk hat die Melodien und die Geschichte(n), der Rock die Energie. Fairport Convention elektrifizierten in den 70ern den britischen Folk, die Waterboys in den 80ern den irischen (eine aufregende neue irische Generation um die Dubliner Band Lankum erklimmt gerade den nächsten Level), Bands wie die holländisch- türkischen Altin Gün bringen türkische Sounds auf den Dancefloor. Hierzulande weniger bekannt, aber dennoch mit stilbildend und führend in diesem Bereich ist die 38jährige Istanbulerin Gaye Su Akyol.

Das moderne Istanbul, wo auf den Tribünen von Galatasaray, Besiktas und neuerdings selbst Fenerbahce Anti-Erdogan-Sprechchöre gesungen werden, verkörpert für sie den Lebensspirit, der sich nicht von religiös grundiertem Autoritarismus unterdrücken lässt. Sie selbst kritisiert die Regierung klugerweise subtil in ihren Texten; live in Moers ist sie in ihren Zwischenmoderationen expliziter. Dabei bringt sie das Kunststück fertig, Milieus, die sich gerne aufeinander beziehen, aber selten begegnen, endlich mal zusammenzuführen: die für einen Geheimtipp erfreulich große Zuhörerschar setzt sich je zur Hälfte zusammen aus biodeutschen Indie-Musik-Fans in ihren 40ern (Durchschnittswert!) und ausgelassen tanzenden und textsicheren Deutschtürkinnen und -türken. Ihre Musik verquirlt traditionell oriental anmutende Melodien mit krachendem Rock- Schlagzeug (für meinen Geschmack hätte live noch etwas mehr Roll dabei sein dürfen) und E- Gitarre; der Rest kommt, solange der Bassist noch verletzt ist, vom Band oder wird vom Gitarristen Ali Güçlü Şimşek am Synthesizer in Loop-Form eingespielt. Die Begleitmusiker spielen maskiert, ganz in der Tradition der lateinamerikanischen psychedelischen Surfgitarrenmusik. Dabei gab es in den 80ern auch eine anatolische psychedelische Rockströmung, auf die sich Su Akyols Band wieder lustvoll bezieht.

Der anatolische Drache (so der übersetzte Titel des aktuellen Albums der Band, Anadolu Ejderi) befreit sich aber nicht nur aus Genre-Fesseln. "In einem Land, in dem selbst sich zu verlieben ein Luxus und eine politische Haltung sein kann" (Gaye Su Akyol im Begleittext zu ihrem Album) ist die Befreiung stets auch eine körperliche. Ihre Musik, ihre rauchig-warme Stimme und ihre Performance wirken exakt so, wie sie sie im Konzert selbst bezeichnet: "rebellious, sexy, and revolutionary". Gaye Su Akyol steckt an mit dieser musikalisch-rebellischen Energie und zeigt Körper und Kunst im Wortsinn: unverschämt.

"Herrschaft ist die Monopolisierung des Genusses" (Leo Kofler). Immer wieder von neuem: No more.

Aktuelles Album: Anadolu Ejderi (Glitterbeat)

Words: Frank Schwarzberg
Photo: Murat Surat