RAMBLIN' ROOTS FESTIVAL

21.10.2023 Utrecht, tivoli Vredenburg
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Sind wir nicht eigentlich wegen Iris DeMent hier? Und warum räumen dann die Boogie-Haudraufs The Seatsniffers direkt vor ihrem Slot um 18:45 nicht die Bühne im Grote Zaal? Muss ihr Soundcheck so ausufern? Oh. Sie fangen an. Schnell raus hier. Und siehe da: am Eingang hatten wir kleine Zettel übersehen, auf denen alles stand, was wir sehr kurzfristig vorher hätten lernen können, hätten wir alle Plattformen verfolgt. Aber das Leben ist zu kurz für derlei Unsinn, und so muss der nackte Zettel herhalten: Iris ist krank. Sie kommt nicht.

Hat das Festival dennoch die Fahrt gelohnt? Und ob! Wir schnuppern für ein paar Songs 'rein bei Bywater Call im proppenvollen Pandora. Das Festival erstreckt sich ja über 5 Venues und Unmengen an Rolltreppen, Aufgängen und Lifts - eine futuristische Szenerie wie aus einem Alptraum Jaques Tatis. Aber halt auch durchdacht, weitläufig, gut belüftet. Und mit guter Musik. Also bewundern wir die Soulröhre der Sängerin Meghan Parnell von Bywater Call, allerdings reichen beim etwas zu vorhersehbaren Aufbau der Songs und dem zu routinierten Spiel der Band 3, 4 Songs.

Schnell in den sträflich spärlich frequentierten Grote Zaal. Dort spielt um 17 Uhr Sydney Ward aka Sunny War ein im Wortsinn spannendes Set von einer Stunde Dauer. Die Songs ihres letztjährigen Durchbruchalbums Anarchist Gospel habe sie so oft performt, dass sie nichts mehr dabei fühle. Es sei Zeit für neue Songs, sagte sie kürzlich in einem Interview. Das ficht uns aber nicht an: live sehen wir Ward zum ersten Mal, und ihre Stimme hat Charakter, ihr Fingerpicking ist halsbrecherisch (wie kreiere ich mit 2 Fingern einen Komplettsound, den andere mit 10 nicht hinkriegen?), ihr Zusammenspiel mit Drummer Alan Eckert zutiefst vertraut. Blues, Gospel und Folk werden in ihrem anarchischen, von schwierigstem Werdegang geprägten Spiel neu lebendig. Keine Redundanz, nirgends. Die zwei eingängigsten Stücke hebt sie sich für den Schluss auf: das schwungvolle No Reason und die große Ballade Whole. Beide Songs sind die am besten geeigneten für den Einstieg ins Sunny War - Universum. Für uns sind sie der Rausschmeißer. Ihren bowler hat hat Sunny War übrigens bei einem Spaziergang in London kurz zuvor zufällig gefunden. Er steht ihr so selbstverständlich, als hätte er nur auf sie gewartet.

Eigentlich wollten wir ja nun unsere guten Plätze behalten, für Iris DeMent (siehe oben). Stattdessen gönnen wir uns eine längere Pause und gehen um 19:45 ins stimmungsvoll ausgeleuchtete Hertz. Ordinary Elephant sind das Ehepaar Pete und Crystal Damore; sie singt und spielt Gitarre, er steuert Banjo (manchmal Gitarre) und Begleitvocals bei. Das machen sie im Stil von Gilian Welch und David Rawlings, die ihrerseits Fans dieses noch unbekannteren Duos sind. Die Texte haben Gehalt, die Melodien sind einprägsam, ihr Gesang betörend. Das ist Folk allererster Güte. Der Sound im Hertz ist makellos - nur ein bisschen lauter hätte es noch sein können.

À propos Sound: im Cloud Nine bastelt Jerry Leger mit seiner Band The Situation bis unmittelbar vor seinem Set um 21:15 daran herum. Übergangslos beginnen sie dann pünktlich ihre Stunde, und es klingt: laut, und unglaublich sauber. Die Orgelflächen, die Rockgitarren, das Drumming, Jerrys nuancierter inszenatorische Gesang, alles geht direkt 'rein in Bauch und Beine und erst über diesen Umweg (ist es einer?) in den Kopf. Weiter oben gibt es ja einen kompletten Konzertbericht zu Jerry Leger, daher sei hier nur angemerkt, dass der Sound in Utrecht noch besser ist als 5 Tage drauf in Essen, und dass die Band festivalbedingt kürzer spielt. Die in der Folgewoche erscheinende neue Platte Donlands (die der clevere Jerry natürlich schon dabei hat) spielen sie dennoch komplett durch, gefolgt von den drei 'Hits' Kill It With Kindness, Have You Ever Been Happy? und Factory Made. Dieser rockige Abschluss steht dem Festival gut. Und wir verlassen zum zweiten Mal in zwei Monaten (nach Wilco und Courtney Marie Andrews im August) das tivoli in völlig beseelter Stimmung.

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Words: Frank Schwarzberg
Photos: Sebastian Timm