JERRY LEGER & THE SITUATION

26.10.2023 Essen-Werden, JUBB

Nichts an seiner Musik ist neu. Aber wie er das macht! Radio eins-Redakteurin Christine Heise hat schon viel gehört – ihren Jerry-Leger-Button am Revers trägt sie nicht von ungefähr. Ich hätte mir auch einen zulegen sollen, im JUBB in Essen-Werden am vergangenen Donnerstag.

Ungefähr 60 Leute sind da, ganz ordentlich für einen trotz Kritikerlob wenig bekannten kanadischen Musiker, der, obwohl erst 38, 70er-mäßig oldschool rüberkommt: braunes Kordsakko, orangefarbenes Riesenkragenhemd, Schnäuzer, Struwwelfrisur. Die weiße Rose hat ihm einer der Organisatoren ans Mikro gesteckt. Leger nimmt er es wohlwollend zur Kenntnis: »I hope it survives the tour with us.«

Wie bei jedem Auftritt dieser Tour wird zuerst »Donlands« komplett durchgespielt. Es ist ein meisterhaft sequenziertes, poetisches Album. Eine verhallte melancholische Ballade zu Beginn, gefolgt von drei überaus melodischen Midtempo-Stücken mit schönen Akkordwechseln. Dann folgt mit »The Flower and the Dirt« eine intensive, sehr zurückgenommene Ballade (kein Mucks in Werden bei der Kunstpause vor dem Ende). Aufstehen, Platte umdrehen (im Konzert nicht nötig): Auf der zweiten Seite des Albums lässt Leger seinen inneren John Lennon raus – mit den wehmütigen, klavierlastigen Balladen »Wounded Wing« und »I Need Love«. Dazwischen als Kontrast der bratzige Uptempo-Rocker »You Carry Me«. Wenn Edward Hoppers »Nighthawks« (1942) kein Bild wäre, sondern ein Film, könnten die beiden letzten Songs der Soundtrack dazu sein: »Out There in the Rain« und »Slow Night in Nowhere Town«. Langsames Fade-out der Musik.

Das Album sei cinematisch angelegt, als Film noir, sagt Leger in Essen, deshalb habe er unbedingt mit Produzent Mark Howard zusammenarbeiten wollen. Der Mann ist berühmt, bei Bob Dylans »Time Out of Mind« (1997) wirkte Howard mit, bei Tom Waits’ »Real Gone« (2004) saß er an den Reglern, bei Courtney Marie Andrews’ »May Your Kindness Remain« (2018) ebenfalls. Alle drei Alben haben einen gespenstisch-verwehten, wabernden, leicht verschleierten Sound. Leger wollte auch so einen Sound – er hat ihn bekommen. Die benötigten Orgelflächen liefert der brillante Alan Zemaitis. Einen Bass wie den von Dan Mock habe ich lange nicht mehr gehört. Er schleicht sich in die Songs wie die Butter in den Toast. Schlagzeuger Kyle Sullivan und Leger an der Gitarre spielen nicht spektakulär auf Effekte: Alles dient der Story und dem Song – wie bei Leonard ¬Cohen und Nick Lowe, Legers erklärten Vorbildern. Und über allem: Legers sonore, sämtliche Stimmungen exakt akzentuierende Stimme.

Nach einer kurzen Trinkpause folgen in Essen elf weitere Songs aus Legers sagenhafte 14 Alben fassendem Repertoire. Ein paar sind aus dem vorzüglichen Vorgängeralbum »No¬thing Pressing« von 2022. Krönender Abschluss: das beinahe siebenminütige »Factory Made« (2014), das als Schleicher beginnt und in einem Inferno endet. Als Zugabe spielen sie John Lennons »Jealous Guy«. Aber wie sie das machen! Standing Ovations.

Words: Frank Schwarzberg
Photo: Sebastian Timm (Utrecht, 21.10.2023)

Der Text erschien zuerst im jW-Feuilleton (https://www.jungewelt.de/artikel/462253.pop-rose-am-mikro.html)