LANKUM

26.11.2023 Amsterdam, Paradiso
LANKUM

Später Sonntag abend im altehrwürdigen, restlos ausverkauften Paradiso mitten in Amsterdam. Die erste Zugabe Lankums, der gefeierten Band aus Dublin, führt zurück zu ihren Anfängen vor rund zehn Jahren. »Cold Old Fire« ist eine trotzig-wütende Anklage einer Gesellschaft, die ungleiche, entwürdigende Lebensumstände produziert, ein Manifest des Sich-nicht-abfinden-Wollens: »And when did we agree to live and lie and die in embers of a cold old fire nobody remembers?«

Irland erlebte in den zehn Jahren nach 2009 eine ökonomische Depression, Massenarbeitslosigkeit und Emigrationswellen. Radie Peat, Cormac MacDiarmada und die Brüder Ian und ¬Daragh Lynch hatten keine Jobs. Sie spielten Folkmusik in Pubs (etwa in Dublins Cobblestone, dem "drinking pub with a music problem") für ein oder vier "free pints". Jetzt, Ende 2023, ist ihre aktuelle Platte »False Lankum« Album des Jahres in Uncut und Nummer drei auf der Jahresbestenliste von MOJO. Die Leute stehen Schlange fast bis zum Leidseplein, um danach das Parkett und die prächtigen Emporen im Paradiso zu füllen, dieser ehemaligen Kirche mit hohen Decken, bunten Kirchenfenstern und glasklarem Sound.

Aber sind wir vielleicht nicht doch im Pub? Die vier Musiker sitzen auf Stühlen oben auf der Bühne, sie plaudern und scherzen zwischen den Songs mit dem Publikum, als wäre man nicht mit 2.000 Fans dort, sondern zu zwölft. Die Eltern der Brüder Lynch winken von der Empore. Support Act Iona Zajac aus Glasgow bringt Radie Peats Toddler, das Kind, ins Bett. Alles normale, sympathische Typen mit kleinen Alltagsproblemen- und freuden.

Bis der nächste Song beginnt. Und die Musik zu einer Größe anschwillt, die mit alltäglichen Kategorien kaum fassbar ist. Alles ist mehr bei dieser Band: das Zarte in Daragh Lynchs warmem Bariton (The Young People) ist ein kraftvolles, präsentes 'leise sein', der gothic horror in Radie Peats Stimme (Go Dig My Grave) geht durch Mark und Bein, Lankums vierstimmiger Satzgesang und der alles ineinander verschmelzende Gesamtsound, wenn alle Instrumente zum Einsatz kommen, evozieren düsterste Geschichte(n) und anrührendste Schönheit. Dissonante Untertöne – MacDiarmada streicht ein und denselben Ton auf der Violine, Daragh Lynch attackiert seine Gitarrensaiten mit dem Bogen, bis er kaputt geht, Ian Lynch erzeugt bedrohliche Drones mit Irish Pipes oder Concertina – müssen ausgehalten werden. Der zerdehnte »Wild Rover« etwa, mit dem sie das Konzert beginnen, wird dergestalt von einem kumpeligen Lied zum Mitsingen zu der verlorenen Ballade, die er im Grunde immer war.

Lankum sind in der Lage, die Essenz eines Songs freizulegen, wie auch in einem interessanten Cover zur Mitte des Konzerts, als sie ausgerechnet ein Lied von Sting so spielen, als sei es ihr eigenes oder eins der uralten Cover, die Lankum gerne ausgraben und umpflügen. Es ist aber aus den 80ern, heißt We Work the Black Seam und handelt vom Bergarbeiterstreik und den communities in Nordenglands Kohlerevieren. Lankum spielen den wahren Sting, der er mal war.

Die letzte Zugabe, »Bear Creek«, ist ein fiddle-dominierter Jig: Cormac MacDiarmada spielt sich schwindelig, dazu malträtiert er seine Fußbassdrum, die Pauke – Cormacs Bruder Jon verstärkt die Band auf der Tour an den Drums – wird immer lauter, immer schneller. Und noch einmal schneller. Ekstase. Bis zur Erschöpfung. Danach johlt und trampelt der ganze Cobblestone Pub. Am Sonntag hieß er Paradiso.

Aktuelles Album: False Lankum (Rough Trade / Beggars Music)

Words: Frank Schwarzberg
Photo: Michelle Dehoney (Amsterdam, 26.11.2023)