VERA SOLA

VERA SOLA

21.04.2024 Amsterdam, Paradiso

Für die Musik muss man dabei gewesen sein. Aber um die Grandezza nachzuempfinden, die dieser Abend im Amsterdamer Paradiso am vergangenen Sonntag ausstrahlte, sind Vera Solas Bühnenansagen hilfreich. Es ist der kleinere Raum in dieser ehemaligen Kirche, mit knapp 200 Leuten gut gefüllt, und Vera Sola sagt, wie schade es ist, dass einige der Venues auf ihrer Europatournee so niedrige Bühnen hätten. "Die Leute weiter hinten sehen mich die halbe Show lang nicht, weil ich so viel Zeit auf dem Bühnenboden zubringe." Kunstpause: "It's such a great place to be."

Ihre Musik und ihre Show sind großes Theater. Mit ausholender, nie aufgesetzt wirkender Geste performt die 34jährige US-Amerikanerin ihre Stücke, entlang des Spannungsbogens, den ihr großartiges Album Peacemaker vorgibt. Dabei verausgabt sie sich geradezu, lässt jeden Ausdruck zu, den die Songs anstoßen, holt aus, geht in die Knie, tanzt wild, fixiert ein im Lied imaginiertes Gegenüber. »I love you I love you I love you I’m lying … or am I?« singt sie in "I’m ying". Falsche Sicherheit ist in diesem Stück das letzte, was die Erzählerin sucht, egal, wie tief sie gesunken ist. Im melodisch eleganten "Desire Path" ist sie am Boden, wörtlich, doch die Abhängigkeit ist groß. Noch in der größten Verletzung ("Watch as I crawl along the floor") bittet sie den Lover, bleiben zu dürfen ("Piss on my back and tell me it’s rain / Then expect me to stay") und beteuert: "I am fine, I’m fine, I’m fine, I’m fine, fine", bevor ihr die Stimme versagt und auf dem Album die Breitwandinstrumentierung übernimmt. Zu der "I'm fine"-Passage greift sie sich an die Magengegend mit verzerrtem Gesicht, und ich muss an eine Freundin denken, die sich kürzlich den Magen verdorben hatte. Aber auch Sola ist in der Lage, das Komische im Tragischen zu sehen, wenn sie - abweichend vom Pathos - zu der "Piss on my back" - Passage Mitmusiker (und Ehemann, ausgerechnet) Kenneth Pattengale schräg von unten (sie kniet schon wieder) so anschaut, als plauderte sie mit ihm über das Wetter. Oder wenn sie bei dem einzigen Verspieler des Abends laut lacht, bevor sie zweimal neu ansetzt und sich übergangslos wieder in die Rolle fallen lässt, die der Song verlangt. Es sind diese Momente, die zeigen, dass an Vera Sola alles Kunst ist und alles echt.

Was auf dem Album, welches sie mit Kenneth Pattengale (eine Hälfte der Milk Carton Kids und zunehmend gefragter Produzent) zusammen produziert hat, der dramaturgisch dosierte Einsatz üppiger Instrumentierung ist, übernimmt im Live-Auftritt die Band. Es ist exakt so, wie es Christine Heise, die die Band in Berlin sah, in ihrer Radiosendung HappySad beschrieb: manchmal kann man enttäuscht sein, wenn Künstler ein komplexes, toll produziertes Album live vorstellen, womöglich solo an der Akustischen, doch hier geht die Darbietung noch über das Album hinaus. Jeder der vier Mitmusiker hat einen Namen und eine eigene Karriere. Kenneth Pattengale: siehe oben. Wer ihn mit den Milk Carton Kids gesehen hat, weiß, dass er einer der fabelhaftesten Gitarristen und Sänger überhaupt ist. Hier spielt er Keyboard, singt harmony oder spielt die zweite Leadgitarre, sehr flächig, sehr atmosphärisch. An der ersten Leadgitarre: Anthony da Costa, selber ein intensiver Songwriter. Seine Licks und Soli brechen aus den Songs hervor und verschwinden wieder in ihnen wie Wetterleuchten. Buck Meek von Big Thief spielt ähnlich. An den Drums, uhrwerkgleich (nur dass es verschiedene Uhren sind, jede tickt anders, aber die Zeit stimmt): Wyatt Bertz, und am Bass Songwriter Elvis Perkins, im langen 40er Jahre - Mantel. Als Vera Sola ihre Band vorstellt, versagt ihr bei dem befreundeten Perkins die Stimme. In jüngeren Jahren, noch vor ihrem ersten Album Shades (2018), als sie sich nicht viel traute, begann alles damit, dass der sie einlud, in seiner Band Bass zu spielen. Und nun, "full circle", bat er sie darum, in ihrer Band Bass spielen zu dürfen. Tränen.

Überflüssig zu erwähnen, dass auch und gerade Vera Solas Gesang natürlich großartig ist (der Sound in Amsterdam übrigens auch): warmes, dunkles Timbre, dosiert eingesetztes Vibrato, schneidend, ruhig oder laut, je nach Rolle, manchmal alles zusammen in einem Stück. So sieht die Künstlerin Auftritte wie den in Amsterdam als großes Geschenk an: sie darf sich zusammen mit großartigen Musikern austoben, "and it's awesome! - Art is beautiful. Music is beautiful. Expressing yourself is beautiful. So - DO IT." Beim letzten Mal in Amsterdam sei sie im Paradiso noch in den Kellerraum gesteckt worden, lacht sie, jetzt spiele sie im Bovenzaal ("levelled up"), das nächste Mal werde sie, sagt sie gleich zu Beginn des Konzerts, im großen erhabenen Hauptraum spielen und zeigt voll Überzeugung schon einmal in die Richtung.

Mindestens genauso ehrlich aber ist, was sie kurz vor dem Ende der 90 Minuten sagt: sie möchte bald wiederkommen, und es ist ihr egal wo. Zur Not auch wieder in den Keller.

Photo: Damon James Duke (Berlin, 16.04.2024)
Text: Frank Schwarzberg